Sie macht’s einfach
Wiebke Richter ist Psychologin, Aktivistin, Netzwerkerin, Politikerin. Ihr Arbeitstag hat rund 13 Stunden, irgendwie bleibt noch Zeit für Chorgesang, Konzertbesuche, Reisen, Beziehung, Freundinnen und Freunde ... Sie mischt sich ein und mischt kräftig mit. Als Rollstuhlfahrerin ist sie als Beraterin auf Augenhöhe ebenso geschätzt wie als Sparringspartnerin für Fragen der Inklusion. Kreativ und organisationsstark bringt sie immer wieder spannende und erfolgreiche Inklusionsprojekte an den Start. Höchste Zeit für einen Besuch: Kommen Sie mit!
Inhaltsverzeichnis
Wiebke Richter: rat- und tatkräftig
Wiebke Richter kam 1969 in Schleswig-Holstein zur Welt. Wegen einer angeborenen Muskelerkrankung ist sie auf einen Rollstuhl und auf Assistenz angewiesen. Als Kind besuchte sie Regelschulen, teils mit tatkräftiger Unterstützung, teils gegen Widerstände. Zum Studium kam sie nach Regensburg (Oberpfalz). Nach einem kurzen Ausflug in die Rechtswissenschaften studierte Wiebke Richter Psychologie und schloss mit dem Diplom ab. Anschließend machte sie in München eine Ausbildung zur Paar- und Familientherapeutin; parallel arbeitete sie in Regensburg am Lehrstuhl für Angewandte Psychologie.
Seit 2002 ist Wiebke Richter psychologische Beraterin beim Phönix e. V. – Beratung und Hilfen für behinderte Menschen. 2020 wurde sie für Bündnis 90/Die Grünen in den Regensburger Stadtrat gewählt. Dort ist sie unter anderem im Sozial-, Kultur- und Bildungsausschuss aktiv. Auf Landes- und Bundesebene setzt sie sich in Parteigremien für eine starke Behindertenpolitik ein. Vor Ort engagiert sich Wiebke Richter in zahlreichen Initiativen, Netzwerken und Projekten für Barrierefreiheit und Inklusion. Unter anderem gründete Wiebke Richter den Regensburger Arbeitskreis Frauen Inklusiv und eine Auditgruppe von Menschen mit Behinderung. 2021 kandidierte Wiebke Richter für den Deutschen Bundestag; 2023 tritt sie in Bayern zur Bezirkstagswahl an.
Kurz erklärt: Persönliche Assistenz
Assistentinnen und Assistenten unterstützen Menschen mit Behinderung. Je nach Bedarf helfen sie zum Beispiel bei der Körperpflege, erledigen Hausarbeiten und übernehmen alle nötigen Handgriffe im Alltag, bei der Arbeit (Arbeitsassistenz) und in der Freizeit. Menschen mit Behinderung beschäftigen ihre Assistenzkräfte selbst (Arbeitgebermodell) oder buchen Assistenzdienste. Die Assistenz finanzieren sie über (pauschale) Geldleistungen oder aus ihrem Persönlichen Budget (= eine finanzielle Leistung, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen sichern soll.)
Inklusion: mal einfach gelebt, mal erkämpft
Kurz nach Wiebke Richters Geburt zog ihre Familie aus Rendsburg (Schleswig-Holstein) in ein 800-Seelen-Bauerndorf. „Meine Eltern waren dort zunächst Aliens“, beschreibt Wiebke Richter, „als Akademiker, mit einem behinderten Kind, einem schrägen Hund und einem VW-Bus ...“ Die einstigen Stadtmenschen, Lehrerin und Lehrer, gingen in die Offensive, traten den örtlichen Vereinen bei, der Vater lernte Plattdeutsch und ließ sich in den Gemeinderat wählen. Das kam gut an. Die Richters wurden geschätzte und aktive Mitglieder der Dorfgemeinschaft.
Wiebke, die jüngere Tochter, war mit einer Muskelerkrankung zur Welt gekommen und nutzte einen Rollstuhl. Nicht nur für die Familie Richter war es selbstverständlich, dass sie den Kindergarten im Dorf besuchte und später die Grundschule. Die Verantwortlichen öffneten die Türen weit und bauten Barrieren auf dem kleinen Dienstweg ab. Die alltägliche Unterstützung regelten die Kinder selbst, packten für Wiebke die Bücher in die Schultasche und halfen ihr in die Jacke. Später nähte die Mutter einen Poncho für Wiebke, „dann gab’s kein Gewurschtel mehr mit den Ärmeln“. Für die Lehrkräfte bedeutete Inklusion: Wiebke ist immer aktiv dabei. Auch beim Sport. Mitturnen konnte sie nicht, mitmischen schon: Wiebke schiedste Handballspiele und machte beim Sportfest die Ansagen. Und wenn ein Mitschüler fragte, ob Wiebkes Krankheit denn ansteckend sei, bekam der Knirps eine klare Antwort („Nö!“) und die Richters eine Anekdote für den Abendbrottisch.
Kurz erklärt: Barrierefreiheit & Inklusion
Barrierefrei nennt man Lebensbereiche (zum Beispiel ein Gebäude, eine Website oder einen Spielplatz), wenn Menschen mit und ohne Behinderung sie einfach und selbstständig finden, erreichen und nutzen können. Inklusion bedeutet: Alle Menschen können überall selbstbestimmt und gleichberechtigt mitmachen. Die Grundvoraussetzung für Inklusion ist Barrierefreiheit – sowohl technisch als auch im Kopf. Mehr erfahren: zur Website „Bayern barrierefrei“
„Ich musste beweisen, dass ich dort richtig bin“
Das selbstverständliche Miteinander endete mit Wiebkes Grundschulzeit. Ihre Noten passten fürs Gymnasium. Aber sonst passte nichts. Ins Internat einer Landesschule für Körperbehinderte? Nein, da war sich die Familie einig. Von drei Gymnasien in der Nähe waren zwei Altbauten und mit Stufen gespickt. Wiebkes Eltern kämpften jahrelang dafür, dass das dritte, moderne Schulgebäude mit Rampen und einem Aufzug nachgerüstet wurden. „Seit ich acht war, hatte ich einen Elektro-Rollstuhl. Die Rampen waren teils für mich zu steil und wurden dadurch wieder zu Barrieren“, erinnert sich Wiebke Richter. „Einige Male bin ich da prekär runtergerollt ...“ In den Schulhof gelangte sie nur über eine Seitentür, den Schlüssel musste sie jedes Mal beim Hausmeister holen. Dass etwa ältere Schülerinnen Wiebke zur Toilette begleiteten, ließ die Schulleitung nicht zu; den Toilettengang musste sie sich verkneifen. Willkommen fühlte sich Wiebke an der Schule so nicht. „Aber meine Eltern hatten so lange gekämpft, jetzt musste ich beweisen, dass ich dort richtig bin.“
Man muss nur integrieren, wen man vorher ausgeschlossen hat. Der Schlüssel zur Inklusion ist deshalb die inklusive Schule. Kinder mit und ohne Behinderung müssen gemeinsam aufwachsen!
Verliebt in eine Kopfsteinpflasterstadt
Zum Studium zog Wiebke Richter nach Regensburg: weil die Universität dort schon in den 80er-Jahren bekannt war für ihre inklusive Haltung – und weil es in der Domstadt eines der ersten inklusiven Studierendenwohnheime Deutschlands gab. 800 Kilometer entfernt, tief im Süden, tief katholisch: „Das war schon ein Kulturschock“, lacht Wiebke Richter. Einen Altstadtschock bekam sie auch: „Regensburg besteht aus Kopfsteinpflaster, Stufen und Denkmalschutz. Aber trotzdem habe ich mich gleich in die Stadt verliebt.“ Sie fand Freundinnen und Freunde, begeisterte sich für die bayerische Kleinkunstszene. Und an der Uni musste sie nicht um ihre Rechte kämpfen, im Gegenteil: Die Verantwortlichen kamen auf sie zu und fragten, welche Unterstützung sie brauche. „Ich habe zum ersten Mal etwas vom Nachteilsausgleich gehört. Und ich wurde gefragt, ob es hilfreich wäre, wenn mir der Statistik-Dozent das Koordinatenkreuz vorzeichnet: Da hab‘ ich geschaut wie ein Auto.“
Was ist der Nachteilsausgleich?
Der Nachteilsausgleich sorgt an Schulen und Unis dafür, dass junge Menschen mit und ohne Behinderung vergleichbare Chancen haben. Dafür werden Nachteile durch eine Behinderung oder chronische Erkrankung ausgeglichen. Wiebke Richter zum Beispiel konnte wegen ihrer Muskelerkrankung nur langsam schreiben. Deshalb bekam sie für schriftliche Prüfungen mehr Zeit. Weitere Beispiele: Ein Student mit einer Sprachstörung darf mündliche Prüfungen schriftlich ablegen. Eine Studentin, die regelmäßig zur Dialyse (= Blutwäsche) muss, wird von der Anwesenheitspflicht freigestellt. Mehr erfahren: zur Website „Studieren in Bayern“
Die eigene Behinderung als Qualifikation
Ihr Jurastudium gab Wiebke Richter bald auf. „Der Wunsch nach Gerechtigkeit war mein Antrieb. Aber das Fach war mir schnell zu staubig.“ Sie sattelte um auf Psychologie. Nach dem Diplom untersuchte sie am Lehrstuhl für Angewandte Psychologie, wie Verantwortliche in der Schifffahrt Signale verarbeiten und Unfälle vermeiden können. Dafür ging sie auch selbst an Bord und forschte auf der Schiffsbrücke. Parallel bildete sie sich in München zur Paar- und Familientherapeutin weiter.
2002 entschied sich Wiebke Richter gegen „den Elfenbeinturm Universität“ und für die Praxis. Beim Regensburger Phönix e. V. bewarb sie sich als Beraterin und Peer Counselorin für Menschen mit Behinderung. „Bei Phönix reicht eine Ausbildung nicht als Qualifikation; man muss auch eine Behinderung haben“, erklärt Wiebke Richter. „Die eigene Behinderung wurde als zusätzliche Qualifikation gewertet: Das fand ich interessant.“
Was ist Peer Counseling?
Peers (engl.) sind Menschen, die etwas gemeinsam haben. Den gleichen Job, denselben Freundeskreis oder zum Beispiel eine Behinderung. Eine Counselorin oder ein Counselor (engl.) berät andere Menschen.
Peer Counseling ist eine Beratung von Betroffenen für Betroffene. Der Vorteil: Die Beratenden können sich leichter in die Ratsuchenden einfühlen und sich auf Augenhöhe mit ihnen austauschen.
Die Beratung beim Phönix e. V. ist ganzheitlich angelegt. Wiebke Richter arbeitet eng mit ihrer Kollegin, einer Sozialpädagogin, und dem Team des Assistenzdienstes zusammen. Zum Beispiel, wenn jemand nach einem Unfall plötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Dann stehen nicht nur viele praktischen Frage an (Kann ich weiter in meinem Job arbeiten? Wie gestalte ich meine Wohnung um? Wo gibt es Fördergelder für Umbauten? Welche Unterstützung brauche ich im Alltag?), sondern auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung. Andere Klientinnen und Klienten suchen Hilfe, weil sie Probleme in Schule, Ausbildung oder Job haben, weil es in der Familie Konflikte gibt oder in der Beziehung knirscht. Nicht nur Betroffene selbst können sich beraten lassen, sondern auch Angehörige.
Frauen mit Behinderung: doppelt diskriminiert
Beim Phönix e. V. stieß Wiebke Richter auf ein eigentlich naheliegendes Thema: Frauen mit Behinderung. „In meiner Familie gibt und gab es nur sehr starke Frauen. Ich habe Diskriminierung als Mensch mit Behinderung erfahren, aber die Diskriminierung als Frau war mir zunächst fremd.“ Doch in der Beratungspraxis erfuhr sie aus erster Hand, was Statistiken belegen: Frauen mit Behinderung sind die Schusslichter auf dem Arbeitsmarkt, haben seltener eine Ausbildung, verdienen weniger, finden kaum barrierefreie gynäkologische Praxen, erleiden weit überdurchschnittlich oft Gewalt. „Unterstützungsangebote wie Frauennotrufe sind nur selten barrierefrei“, sagt Wiebke Richter. Und es fehle am Geld und an Therapeutinnen und Therapeuten mit eigenen Behinderungserfahrungen, mit denen man nicht „das erste halbe Jahr der Therapie zunächst alle Vorurteile über ein Leben mit Behinderung aufarbeiten muss".
Seit Anfang 2021 arbeitet Wiebke Richter am ReWiKs-Forschungsprojekt der Berliner Humboldt-Universität mit. Das Ziel: Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in Wohnheimen leben, in ihrer sexuellen Selbstbestimmung stärken. In Regensburg leitet sie zwei Gesprächsgruppen; sie bieten geschützte, neutrale Räume für den Austausch. Intimität, Sexualität, Partnerschaft, sexuelle Diversität, Kinderwunsch: „Die Themen kommen ganz von allein“, berichtet die Psychologin, der Redebedarf sei enorm und die Gruppentreffen sehr dynamisch. Ein Thema sei auch sexueller Missbrauch. „Wenn man mit einer Behinderung aufwächst, wird viel an einem herumgedoktert, man wird von vielen Menschen angefasst und die Entscheidungen treffen andere. Da ist es in der Entwicklung schwierig, die eigene Grenzen zu erkennen und durchzusetzen. Sexuelle Gewalterfahrungen waren in Wiebke Richters Beratungstätigkeit schon früh aufgeploppt und begegnen ihr immer wieder. „Auf diese Dimension war ich zunächst nicht vorbereitet. Es kommt so viel häufiger vor, als man denkt.“ Die Erfahrungsberichte gehen der Psychologin tief unter die Haut. Sie nimmt Supervision in Anspruch, um die Eindrücke zu verarbeiten.
Redet nicht über uns. Redet mit uns!
Mit Fragen der Gewalt und allen anderen Themen, die Frauen mit Behinderung betreffen, beschäftigt sich der Arbeitskreis Frauen inklusiv. Wiebke Richter gründete ihn 2014 und lud „alle ein, die etwas mit Frauenunterstützung zu tun haben.“ Die Resonanz war groß und begeistert. „Die Zusammenarbeit ist so gut und es kommen so vielfältige Ideen. Zweimal pro Jahr gibt es ein großes Treffen und jedes Mal bilden sich neue Arbeitsgruppen.“ Der Arbeitskreis organisiert Veranstaltungsreihen zu Themen wie Elternschaft mit Behinderung oder Mädchenarbeit und Jugendkultur, organisiert Gruppen, in denen Mütter mit Behinderung Kraft schöpfen können, bietet Selbstbehauptungskurse für Mädchen mit Behinderung und veranstaltet inklusive Tanzworkshops. Und: Der Arbeitskreis setzt sich auf allen Ebenen für die Rechte und den Schutz von Frauen und Mädchen mit Behinderung ein.
Mit der Auditgruppe Expert*innen in eigener Sache schloss Wiebke Richter eine weitere Lücke. Öffentliche Auftraggeber in Stadt und Landkreis Regensburg können sie buchen, um Gebäude und öffentliche Räume genauso wie Wanderwege auf Barrierefreiheit zu testen. Die Auditgruppe wird auch zum Beispiel bei der Planung einer neuen VHS, dem Umbau des Rathauses oder der Gestaltung von öffentlichen Plätzen im Landkreis einbezogen – und damit das Prinzip „Nicht über Menschen mit Behinderung reden, sondern mit ihnen“ umgesetzt. Trifft eine Anfrage ein, aktiviert Wiebke Richter Expertinnen und Experten in eigener Sache, zum Beispiel vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund, dem Bezirksverband der Gebärdensprachgemeinschaft Oberpfalz oder dem Verein „Irren ist menschlich“. Bei Bedarf zieht sie den lokalen Fachmann für Barrierefreiheit der Beratungsstelle Barrierefreiheit hinzu.
Das Wichtigste: ein offenes Ohr für besondere Bedürfnisse
Von 2013 bis 2016 lief das Projekt „Regensburg inklusiv“. Es vernetzte Akteurinnen und Akteure aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die gemeinsam die Inklusion vorantreiben wollten. Auch Wiebke Richter war aktiv dabei. „Das war eine ganz tolle Idee damals“, sagt sie, „alle saßen an einem Tisch, Verbände, Betroffene, Kostenträger, Hilfsorganisationen. Alle haben auf Augenhöhe diskutiert und gestaltet.“ Ein Aktionsplan wurde entwickelt, ein Bündnis für einen inklusiven Arbeitsmarkt schloss sich zusammen, ein Büro für Leichte Sprache entstand. Vor allem aber, findet Wiebke Richter, habe das Projekt die Haltung in der Stadt verändert: den Blick auf die Bedingungen für ein echtes Miteinander.
Für Wiebke Richter zählt nicht nur die Barrierefreiheit nach DIN-Norm. „Das Wichtigste ist, dass Menschen mit Behinderung sich eingeladen fühlen. Dass sie zum Beispiel bei Veranstaltungen erleben: Die haben an mich gedacht, die signalisieren ein offenes Ohr für Special Needs (= besondere Bedürfnisse). Ein Beispiel: Auch gehörlose Menschen wollen spontan teilhaben können und nicht erst mühsam nachfragen und organisieren müssen. Wenn in einer Einladung steht, dass für Gebärdensprachdolmetschung gesorgt ist, dann kommen die Menschen auch. Und dann erleben auch die Verantwortlichen, dass tatsächlich Bedarf besteht.“ Ob Dolmetsch- oder Fahrdienst: Inklusion kann allerdings ein gewaltiger Kostenfaktor sein, gerade für kleine und nichtkommerzielle Veranstaltungen. Oft reiche es aus, findet Wiebke Richter, „dass man deutlich signalisiert: Melde dich, wenn du etwas brauchst – und dann für das entsprechende Angebot sorgt, wenn Nachfrage besteht. Das muss aber gut und einladend kommuniziert sein.“
Drei Stimmen über ... Wiebke Richter
Einmischen, mitmischen: jetzt auch als Politikerin
An politischen Fragen arbeitet sich Wiebke Richter seit ihrer Jugend ab; in die Politik gehen wollte sie nie. Bis sie erkannte: „Wenn ich wirklich was bewegen will, dann muss ich da rein!“ 2014 trat sie Bündnis 90/Die Grünen bei und stellte fest: „Parteipolitik macht unglaublich viel Spaß, alle Arbeitskreise sind interessant, am liebsten würde ich überall mitmachen – gerade, weil Inklusion ein Querschnittsthema ist, das alle Lebensbereiche betrifft.“ In ihrer Partei startete Wiebke Richter rasch durch. Sie baute Barrieren ab – Gebärdensprach- oder Schriftdolmetschung und Übersetzungen in Leichte Sprache wurden bei den Regensburger Grünen zum Standard –, engagierte sich auf Landes- und Bundesebene und wurde in den Regensburger Vorstand gewählt. „Und dann kam die Kommunalwahl und ich dachte, dann probier ich das auch.“ Sie bekam „irre viel Unterstützung“ – und reichlich Stimmen. 2020 zog sie in den Stadtrat ein, als erste Regensburger Stadträtin mit sichtbarer Behinderung.
Die Verwaltung schickte Wiebke Richter einen Plan des Sitzungssaals, auf dem ein Platz für sie markiert war, daneben ein Stuhl für ihre Assistenz. Passt das so? Passt. Weil sie dicke Infosammlungen mit Bauplänen und Statistiken nicht durchblättern kann, erhält die Stadträtin alle Unterlagen in digitaler Form und klickt sie auf einem speziellen Tablet-PC mit Mausanschluss durch. Die Abstimmungsfrage löste Wiebke Richter selbst. Wegen ihrer Muskelerkrankung kann sie bei Abstimmungen nicht den Arm recken. Also besorgte sie sich eine Plastik-Fliegenklatsche in Handform, die sie nun hochreckt.
Wenn Menschen mit Behinderung sichtbarer werden, ist schon viel erreicht. Ich will in Gremien die Gesellschaft in ihrer Zusammensetzung abbilden; ich will Vielfalt sichtbar machen.
Wiebke Richter sitzt in Regensburg in der Opposition. „Aber allein schon meine Anwesenheit bewegt was“, stellt sie fest. Beim Thema Inklusion habe ihre Stimme als Fachfrau und Betroffene Gewicht. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass eine barrierefreie Dusche im Regensburger Mietspiegel einen Aufpreis erlauben sollte. Bodengleiche Duschen sind für Menschen mit Gehbehinderung kein Merkmal gehobenen Wohnstils, sondern pure Notwendigkeit, erklärte Wiebke Richter. Ihr politisches Ziel: „Ich hätte gern so was wie einen Inklusions-Vorbehalt.“ Bei jeder politischen Entscheidung müsse dann überprüft werden, ob sie mit der Inklusion in Einklang steht: „Es dürften also keine öffentlichen Gelder für ausgrenzende Maßnahmen ausgegeben werden.“ Naja, sagt sie, und lacht, „ich habe noch vier Jahre in dieser Legislatur.“
2021 kandidierte Wiebke Richter für den Bundestag. Mit ihrem Listenplatz 23 verpasste Wiebke Richter den Einzug in den Bundestag. Sie ist enttäuscht, aber nicht entmutigt. „Das wäre ein irrer Stress gewesen“, meint sie. „Die Arbeitsbedingungen sind nicht darauf ausgerichtet, dass man Assistenz braucht.“ Ganz zu schweigen vom Pendeln zwischen Regensburg und Berlin. „Wenn eine Stunde vor Abfahrt des Zuges mein Assistent ausfällt, weil er einen positiven Corona-Test hat, komme ich nicht zum Zug.“ Aber, fährt Wiebke Richter fort und, strahlt aus allen Poren: „Das wäre eine tolle Chance gewesen, mich auf Gesetzesebene einzusetzen.“ Doch sicher ist, Wiebke Richter mischt weiter mit. 2023 will sie für den Bezirkstag kandidieren und 2026 wieder in den Regensburger Stadtrat einziehen.
Alles, was ich mache, macht mir Spaß. Manchmal ist es etwas viel Spaß. Aber ich mache viele tolle Projekte und lerne viele tolle Menschen kennen. Ich tue es auch für andere, die nicht die Kraft haben.
6 schnelle Fragen an ... Wiebke Richter
Frau Richter, wie viele Stunden hat Ihr Tag?
Sie lieben klassische Musik. Welches Stück hilft gegen Stress?
Was reizt Sie an der Kommunalpolitik?
Mit Assistenz leben: Macht das geduldiger oder ungeduldiger?
Was bedeutet für Sie persönlich Inklusion?
Ihr Motto: einmischen, mitmischen. Wo möchten Sie sich gerne noch einmischen?
Wiebke Richter: meine Botschaft
... an Menschen ohne Behinderung: Bezieht Menschen mit Behinderung immer mit ein. Und lasst sie für sich selber sprechen! ... an Menschen mit Behinderung: Mischt euch ein, wo ihr nur könnt!