Porträtfoto: Yuliia Koval.

Die Verbündete der Kunst

2002 verließ Yuliia Koval die Ukraine, um in München an der Akademie der Bildenden Künste Malerei zu studieren. Danach arbeitete sie als freischaffende Künstlerin und Illustratorin. Vor der Geburt ihres zweiten Kindes schlug sie außerdem den Weg zur Kunsttherapeutin ein. Der anhaltende Krieg in der Ukraine und die weltweit angespannte Lage haben ihr Verhältnis zur Kunst zwar geändert – doch sie bleibt nach wie vor der zentrale Baustein in ihrem Leben. 

Ohne Worte Menschen erreichen 

Menschen auf einer tieferen und unmittelbaren Ebene zu erreichen zeichnet für Yuliia Koval Kunst aus. Die heute 45-Jährige studierte in Kyjiw Buchkunst und arbeitete als Grafikerin und Illustratorin, bevor sie 2002 nach Bayern zog. Während ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in München verabschiedete sie sich von der gegenständlichen Malerei und wandte sich stärker der abstrakten Malerei zu. Eine typische Werkgruppe von ihr sind großflächige Wandarbeiten, auf denen sie Farbinseln komponiert, die auf den Grundfarben Gelb, Blau und Magenta basieren. „Es sind Arbeiten, die man in Bewegung anschaut“, sagt die Künstlerin, die zu einem inneren Dialog anregen möchte. Im flüchtigen Vorbeigehen sollen die Betrachtenden ihren eigenen Assoziationen folgen und gleichzeitig eine Stimmung mitnehmen. Neben ihren freien künstlerischen Arbeiten setzte sie nach dem Abschluss ihres Kunststudiums auch Auftragsarbeiten um. „Ich bin mit der Zeit viel offener geworden und habe diesen egoistischen Blick, der dem Künstlertum innewohnt, abgelegt“, fasst sie im Rückblick zusammen. „Kunst kann so vieles. Der ästhetische Genuss ist nur eine von vielen Funktionen.“ 

Wandgemälde: Weiße Wände bilden eine tiefe Nische in einem Raum. Auf den Wänden sind ungezählte eckige Flächen unterschiedlicher Größe und Farbe angeordnet, von Schwarz bis Neonpink. Sie berühren oder überlagern einander.

In ihren Werken zeigt sich die Künstlerin vielseitig.

Wandgemälde: Eine weiße Wand ist mit vielen, nicht scharf umrissenen Farbflächen – in neonbunten und gedeckteren Tönen – gestaltet.
Kunstwerk: Auf einer kleinen Holzplatte sind abstrakte Formen zu sehen. Die Fläche oben links in Weiß gehalten, ein feines Gespinst, Raureif ähnlich. Unten rechts breitet sich Weiß über gelbem Grund aus. Fast in der Mitte ist rotes Element platziert, ähnlich einer Mohnblüte. Das Bild wirkt durch das Holz greifbar und geerdet, die Farben dagegen scheinen flüchtig und schwebend.
Kunstwerk: Auf weißem Grund sind abstrakte Formen angeordnet. Zwei Elemente in der Bildmitte ähneln den zarten, roségrundigen Flügeln eines Schmetterlings. Schwarz getupfte Elemente setzen starke Kontraste.
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Starke Frauen in der Kunst als Vorbild

Yuliia Kovals persönlicher Standpunkt zur Kunst hat sich im Lauf der Zeit geändert. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Frauen in der Kunst, die sie beeinflusst haben. Sie verehrt die ukrainische Künstlerin Marija Prymatschenko (1907–1997), die eine fantastische Welt von Tieren, Vögeln und Blumen erschuf und als eine der wichtigsten Vertreterinnen der naiven Malerei gilt. „Ihre Lebensgeschichte ist sehr faszinierend, wenn auch traurig. Aber sie hat zum Leben Ja gesagt und das in Kunst übersetzt. Das finde ich sehr inspirierend“, erklärt Yuliia Koval. Eine andere Künstlerin, die sie begeistert, ist Kiki Smith (geb.1954), die in den 1980er Jahren mit schonungslosen Darstellungen des menschlichen Körpers bekannt wurde und für viele eine Ikone des Feminismus darstellt. Yuliia Koval imponiert die große Offenheit und das Selbstbewusstsein der deutsch-amerikanischen Künstlerin. „Sie bespielt sehr schwere Themen mit Leichtigkeit. Das gefällt mir. Und ich liebe ihr Statement, in dem sie sagt, dass ihre künstlerische Arbeit mit der Umgebung und dem, was sie aktuell interessiert, verbunden ist.“ 
 

„Wir leben in Zeiten, wo es wehtut, die Realität zu erkennen; deshalb ist es wichtig, Brücken zu schlagen und die Menschen auf einer anderen Ebene zu berühren.“

Familie, Kunst und Broterwerb

Ihre ersten Jahre in München waren von Unbeschwertheit geprägt, obwohl die Lebensumstände nicht so einfach waren. „Wenn man jung ist, sieht man alles durch eine rosarote Brille und denkt, man kann alles erreichen“, sagt Yuliia Koval und lächelt. Kurz nachdem sie ihr Studium begonnen hatte, brachte sie ihren Sohn zur Welt und meisterte die herausfordernde Aufgabe, mit Kind zu studieren: „Ich konnte vieles als Mutter nicht machen“, erzählt sie. Dass sie das Studium durchgezogen hat, führt sie darauf zurück, dass sie das Leben nahm, wie es kam. „Ich wusste, ich werde auf vieles verzichten. Aber ich habe es einfach gemacht.“ Nach ihrem Abschluss 2008 tat sie sich zunächst mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zusammen und organisierte Ausstellungen in München. Aber auch in Athen und Singapur wurden ihre Arbeiten gezeigt. Doch eine rein künstlerische Karriere verfolgte Yuliia Koval nicht. Sie entschied sich dafür, mehrgleisig zu fahren, und startete 2018 ihren Masterstudiengang als Kunsttherapeutin. Da war sie in einer neuen Beziehung und mit ihrer heute sechs Jahre alten Tochter gerade schwanger. „Ich musste etwas finden, wo ich nicht nur Geld verdienen, sondern auch Perspektiven für die eigene Entwicklung sehen konnte“, fasst sie ihren Entschluss zusammen. 
 

Porträtfoto: Yuliia Koval.

Yuliia Koval lebt und arbeitet seit 2002 in München. 

3 Fragen zur Rolle der Frau 

Meiner Meinung nach verändert sich die Rolle der Frau. Es gibt tolle Entwicklungen. Als ich an der Akademie studiert habe, gab es beispielsweise kaum Professorinnen. Das hat sich geändert. Und es gibt auch Frauenbeauftragte. Aber es ist noch sehr viel zu tun, weil die klassischen Rollen noch so tief in uns stecken. Man versteht vieles rational, aber das auch zu verinnerlichen, ist schwierig. Da müssen wir noch dran arbeiten. Wir müssen Lösungen finden, zum Beispiel für die Familie, für die Rolle von Müttern und Vätern. Die Frau bekommt das Kind und nicht der Mann. Das ist Realität und macht Frauen verletzlich. Und nicht alle schaffen diesen Spagat zwischen Kind und Karriere. Wie also kann eine Lösung aussehen?

Ich würde auf jeden Fall sagen: Bildung, Selbstständigkeit, Verantwortung. Frauen müssen gleiche Rechte haben, aber ich beobachte auch, dass Frauen das häufig gar nicht möchten. Viele möchten diese alte Rolle spielen. Deshalb finde ich Aufklärung für Kinder und Mädchen wichtig. Bildung macht Frauen stark, denn sie zeigt ihnen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können, genauso wie Jungs und Männer. 

Dass sie Verantwortung übernehmen. Das wünsche ich mir explizit für Frauen: einfach die Realität anerkennen und nicht in den Wolken schweben.

Porträtfoto: Yuliia Koval.

Yuliia Koval ist in München gut vernetzt, aber ihre Wurzeln sind in der Ukraine.

Die heilende Wirkung der Kunst: Arbeiten als Kunsttherapeutin 

Ihre Entscheidung für den therapeutischen Ansatz führte Yuliia Koval in das medizinische Umfeld. Mit diesem kam sie zum ersten Mal in Kontakt, als ein Verein engagierte, damit sie Räume in einer Kinderklinik verschönert. Jede Station durfte sich wünschen, welche Themen sie abbilden sollte. In der Notaufnahme waren es exotische Tiere, afrikanische Motive und Gestalten aus der Unterwasserwelt. „Die Kinder haben geschaut und dann immer wieder neue Dinge entdeckt. Das wurde sehr gut angenommen und hat auch mir Spaß gemacht.“ Sie stellte vor allem fest, dass sie sich trotz der Not und der Tragödien, die sie mitbekam, am richtigen Ort fühlte. Denn sie konnte mit ihrer Kunst etwas bewirken. Das war neben dem finanziellen Aspekt ein weiterer Grund, warum sie den Weg zur Kunsttherapeutin einschlug. Heute ist sie am Universitätsklinikum der TUM in München tätig: „Ich kann richtig erleben, welche Wirkung Kunst hat. Durch die schöpferische Tätigkeit können sich die Menschen ausdrücken. Sie bekommen Platz und werden ernst genommen." Einige ihrer Teilnehmenden kaufen sich selbst Materialien, um das Malen zu Hause fortzusetzen. Die Kunst gibt ihnen Kraft und hilft ihnen, ihre Themen zu behandeln oder einfach Stress abzubauen. Und wie hat sie als Künstlerin die Hinwendung zur Kunsttherapie erlebt? „In meinem Kunststudium war das therapeutische Arbeiten nicht angesehen. Heute kann ich besser dazu stehen, denn es hat meinen Horizont erweitert und bedeutet mir viel.“
 

Vernetzt in München und als Ukrainerin der Heimat verbunden 

Innerhalb der letzten 23 Jahre wurde München zu Yuliia Kovals Lebensmittelpunkt, ihre Mutter und ein Teil ihrer Familie leben aber nach wie vor in der Ukraine. Ihre Rolle als Ukrainerin in München empfindet sie als schwierig. „Das ist ein schmerzhaftes Thema für mich.“ Früher machte sie sich nicht allzu viele Gedanken über ihre Herkunft. In ihrem Studium und auch später suchte sie beispielsweise nicht gezielt Kontakt zu Menschen aus der Ukraine, sondern öffnete sich für alle: „Ich dachte, ich bin frei, ich bin ein Weltmensch.“ Doch der beginnende Krieg in der Ukraine erschütterte ihr Leben nachhaltig. 2022, kurz vor dem Abschluss ihres Masterstudiengangs, befand sie sich in einer tiefen Krise, die sie viel Kraft kostete: „Aber irgendwann habe ich gedacht, dass ich nicht einknicken darf“, erklärt Yuliia Koval. Für sie bedeutete die Lösung: die Realität anerkennen und trotzdem weitermachen. Ihrem Ziel, eine „radikale Akzeptanz“ zu erlangen, nähert sie sich täglich in kleinen Schritten: „Ich wache auf und sehe in den Nachrichten, dass ballistische Raketen Richtung Ukraine unterwegs sind. Aber ich muss aufstehen. Ich muss funktionieren.“ Genauso muss sie damit klarkommen, dass ihre Familie, Freundinnen und Freunde in der Ukraine dem Krieg unmittelbar ausgeliefert sind und sie täglich traurige Nachrichten bekommt. Die Kunst und ihre Tätigkeit als Kunsttherapeutin helfen ihr, weiterhin Ja zum Leben zu sagen und ein Stück weit an das Gute im Menschen zu glauben – unabhängig von allen aktuellen Problemen. 

„Alles funktioniert am besten, wenn ich mit mir selbst einverstanden bin, egal, was los ist.“