Die Unerschrockene
Da sie in Kolumbien keine Chance hatte zu studieren, verließ Melissa Peñaloza im Alter von 20 Jahren ihre Heimat und ging nach Bayern. Dort ließ sie sich zur Elektronikerin ausbilden, heiratete und nahm den Namen Perlinger an. Im Frühjahr 2023 brachte sie ihre Tochter zur Welt. Schon kurz darauf begann sie eine Aufstiegsfortbildung zur Industriemeisterin.
Melissa Perlinger: aus eigenem Antrieb
Melissa Peñaloza (heute Perlinger) wurde 1996 in Kolumbien geboren. Da ihre Eltern ihr kein Studium finanzieren konnten, entschied sie sich, als Au-pair nach Deutschland zu gehen. „Mein Ziel war immer, einen Berufsabschluss zu machen. Das war für mich der Schlüssel zu einer besseren Zukunft.“ Obwohl sie ganz auf sich gestellt war und als Au-pair kaum Freizeit hatte, ließ sie sich nicht unterkriegen. Sie ging in kleinen Schritten vor, lernte die Sprache, informierte sich über Berufe, schloss Freundschaften und begegnete ihrem zukünftigen Mann. Nach abgeschlossener Ausbildung und der Geburt ihres Kindes im März 2023 startete sie im Mai eine Fortbildung zur Industriemeisterin. Ihr Mann meinte, sie sei die Einzige, die er kenne, die auf so eine Idee komme. Doch Melissa wollte es unbedingt probieren: „Ich habe viel Mut, aber ich habe auch einen super Partner, der mich unterstützt.“
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Von Kolumbien nach Bayern
Aufgrund ihrer Lebensumstände konnte es sich Melissa Perlinger nicht leisten, zimperlich zu sein: „Bei der Reise nach Deutschland habe ich im Flugzeug gesessen und geweint, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Ich konnte kein Englisch, und ich hatte kein Geld, um zurückzukehren.“ Familie und Heimat hinter sich zu lassen fiel ihr schwer. Es brauchte Zeit, bis sie sich in Deutschland wohlfühlte. Vor allem bei der Jobsuche musste sie sich mit Vorurteilen auseinandersetzen. „Ich wollte nicht in die Pflege gehen oder Krankenschwester werden. Das wusste ich von Anfang an. Das war aber leider das, was für lateinamerikanische Frauen angeboten wurde.“ Doch sie ließ sich davon nicht beeindrucken, bewarb sich in verschiedene Richtungen und startete als Fabrikhelferin bei einem Automobilhersteller. Als ihr dieser anbot, sie zur Elektronikerin auszubilden, nutzte sie die Chance und schloss mit Auszeichnung ab. Von ihrem Kollegium, das größtenteils aus Männern besteht, wurde sie schnell akzeptiert: „Meine Arbeit erfordert sehr viel Präzision, und meine Kollegen wissen, dass sie sich auf mich verlassen können. In meinem Betrieb wurde ich von Anfang an nicht anders behandelt, weil ich eine Frau bin.“ Wie Melissa Perlinger ihre Karriere startete, erzählt sie auch in einem Video auf dem Weiterbildungsportal „Komm weiter in B@yern“.
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Haltung beziehen
In der Berufsschule fiel ihr Frausein dagegen mehr auf, und Melissa Perlinger musste sich gegen sexistische Bemerkungen wehren. „In der Ausbildung war ich die einzige Frau und musste mir sexistische Witze anhören. Damals dachte ich, die sind einfach jung und dumm.“ Aber in ihrem Meisterkurs saßen lauter erwachsene Männer zwischen 30 und 40, die genau dieselben Sprüche klopften. „Ich habe ihnen erklärt, dass eine Frau sie auf die Welt gebracht hat und ich ihre Witze nicht lustig finde, sondern respektlos.“ Als Reaktion erhielt sie häufig die Antwort, dass sie sich nicht so aufregen solle, aber Melissa Perlinger bringt das Thema in Rage: „Meiner Mitschülerin im Kurs war das egal, wenn die Männer sich über sie lustig machten, aber ich fand, das geht gar nicht. Wenn wir den Mund halten, sieht das so aus, als hätten wir es verdient, so behandelt zu werden.“
„Die Arbeit von Frauen in technischen Berufen und die Machtpositionen müssen sichtbarer gemacht werden.“
Bei sexueller Belästigung gibt es Hilfe
Blöde Sprüche, unangenehme Blicke oder übergriffiges Verhalten – Belästigungen am Arbeitsplatz gegenüber Frauen sind keine Seltenheit. In einer aktuellen Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2022) gaben 62 Prozent der Frauen an, dass sie in Form von sexualisierten Kommentaren belästigt wurden. 44 Prozent berichteten von unerwünschten Blicken, Gesten und Nachpfeifen und 26 Prozent von ungewollten Berührungen. Informationen sowie Hilfs- und Beratungsangebote zum Thema „sexuelle Belästigung“ – darunter auch zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gibt es auf der Website Bayern gegen Gewalt. Hier finden sich auch Infos und weiterführende Links zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz.
Eigene Maßstäbe setzen
Wenn ihr etwas nicht passt, macht Melissa Perlinger den Mund auf. Und wenn äußere Umstände sie behindern, versucht sie, diese Hürden zu nehmen, so gut es geht. So wurde sie kreativ und besorgte eine besonders handliche und unauffällige Milchpumpe, um in der Berufsschule in den Pausen Milch für ihre Tochter abpumpen zu können: „Ich habe extra eine ausgesucht, die ich gut unter das T-Shirt schieben kann, ohne dass jemand was sieht.“ Da in der Berufsschule kein Ort zum Abpumpen vorgesehen war, blieb ihr nichts anderes übrig als den Unterrichtsraum dafür zu nutzen. „Ich wollte mein Baby mit Muttermilch versorgen, weil das aus meiner Sicht die beste Nahrung ist. Beim ersten Mal haben alle geschaut, woher das Geräusch kommt, aber auch das war mir egal.“ Das Thema Abpumpen ist ein Thema, das sie als stillende Mutter beschäftigt. Sie findet es gut, dass das Arbeitsschutzrecht dafür Pausen vorsieht.
Über fehlende Wickeltische auf Männertoiletten
In anderen Lebensbereichen fühlt sie sich durch das tradierte Rollenverständnis eingeengt. Über Bemerkungen wie „Ach, der Papa hilft auch“ ärgert sie sich. „Ein Papa hat genau die gleichen Pflichten wie eine Mama“, findet sie. Mit ihrem Mann kümmert sie sich gemeinsam um die Tochter, und auch die Schwiegermutter unterstützt. Eine gleichberechtigte Beziehung ist für Melissa Perlinger wichtig. Im Alltag gerät das Paar allerdings immer wieder in Situationen, in denen es schwierig wird. Wenn sie beispielsweise unterwegs sind und die Tochter eine neue Windel braucht, hat ihr Mann ein Problem, weil sich der Wickeltisch grundsätzlich in den Damentoiletten befindet. Das Paar hat sich eine mobile Auflage besorgt, die es überall anbringen kann. Doch mit dem eindimensionalen Mutterbild ist Melissa Perlinger nicht einverstanden. „Das sind so kleine Dinge im Alltag, durch die die Gesellschaft impliziert, du bist die Mutter und du musst dich kümmern‘. Auch Vorstellungen wie, die Mama ist immer da, sie darf sich nicht beschweren, sie darf nicht müde sein‘ sollte es nicht mehr geben.“
„Wir sollten auch als Mütter unsere Träume weiterverfolgen können und nicht denken, wenn ich ein Baby bekomme, ist mein eigenes Leben zu Ende.“
3 Fragen zur Rolle der Frau
Ich glaube, dass wir durch die Kämpfe in der Vergangenheit schon viel erreicht haben: Früher haben wir uns als Frauen vor allem als Mütter und Pflegerinnen zu Hause gesehen, mittlerweile können wir einen Beruf wählen und haben eine eigene Stimme bekommen. Wir kämpfen aber immer noch weltweit, um zum Beispiel über unsere Körper zu entscheiden. Da gibt es noch einiges zu tun.
Für mich ist das in drei Bereiche unterteilt: Wir haben die körperliche, die intellektuelle und die psychologische Stärke. Damit ich stark sein kann, muss ich in allen drei Bereichen etwas machen. Täglicher Sport ist wichtig, aber auch die Erholung. Mit intellektueller Stärke meine ich die akademische Ausbildung. Die psychologische Stärke ist das Schwierigste. Therapie kann hier zum Beispiel helfen, den Kreislauf von systematischer Gewalt zu brechen. In Lateinamerika erleben häufig Frauen psychische und physische Gewalt in ihrem Alltag, die Rate der Frauenmorde ist sehr hoch. Die Gesellschaft und die Polizei oder die Anklagebehörde neigen dazu, dem Opfer die Schuld zu geben statt dem Täter. Dadurch erhöht sich das Risiko der Reviktimisierung, das heißt, dass Frauen erneut Opfer werden. Mir hat die Therapie geholfen, diese Mechanismen zu verstehen. Und ich habe darüber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gesprochen – sowohl in Deutschland als auch in Kolumbien. Durch den Dialog kann sich ändern, wie wir über diese Art von Gewalt reden und sie bewerten. Empathie, Respekt und Unterstützung sind mir dabei wichtig.
Ich wünsche mir, dass für Frauen und Männer gleiche Bedingungen herrschen – egal, in welchem Bereich. Ein Beispiel: An der Berufsschule gab es für alle Auszubildenden der Elektroabteilung eine einzige Frauentoilette. Das war zu wenig. Ein anderes Beispiel: Als es bei uns in der Abteilung keinen Platz für eine Kaffeeküche gab, sind meine Kollegen auf die Idee gekommen, die Frauentoilette umzubauen. Da hätte ich dann in einen anderen Stock gehen müssen. Da habe ich protestiert und gesagt, dass ich nicht die einzige Frau bleiben werde. Ein halbes Jahr später kam dann eine neue Kollegin dazu. Unternehmen sollten mehr Frauen in technischen Berufen fördern und die Arbeitsbedingungen anpassen.
Warum Pole-Sport Frauen guttut
Eine besondere Kraftquelle in Melissa Perlingers Leben stellt der Pole-Sport dar, bei dem Sportlerinnen und Sportler an einer Stange akrobatische Übungen machen. Melissa Perlinger begeisterte diese Art, sich zu bewegen und den Körper fit zu halten so sehr, dass sie Trainerin wurde und über das Internet andere Frauen in Kolumbien schult. „Es gefällt mir zu sehen, wie dieser Sport Frauen stärkt. Weil sie erleben, was sie mit ihrem Körper alles machen können – egal, wie viel sie wiegen.“ Diese Erfahrungen können dazu beitragen, dass Frauen sich von den Schönheitsidealen lösen. „Frauen sollen aufhören, sich diese Körper zu wünschen, die die Gesellschaft und die Werbung von ihnen verlangt.“
Vorbild sein für die Tochter
Seit sie Mutter ist, hat sie das Gefühl, dass sie alles effizienter macht: „Das hört sich vielleicht ein bisschen übertrieben an, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich eine Super-Power bekommen habe.“ Um alles unter einen Hut zu bekommen, muss sie sich ihre Zeit genau einteilen. „Während meiner Ausbildung habe ich rund um die Uhr gelernt. Mittlerweile kann ich das besser organisieren und bekomme quasi das gleiche Ergebnis mit weniger Arbeit.“ Für ihre Tochter möchte sie ein Vorbild sein und zeigen, dass es wichtig ist, das eigene Leben so zu gestalten, dass es einem gutgeht. „Ich kann nicht 24 Stunden, sieben Tage die Woche „nur“ Mama und die ganze Zeit zu Hause sein.“ Sie persönlich braucht Vielfalt: „Ich bin Mutter, ich bin Ehefrau, ich bin Freundin, ich habe meinen Beruf, und ich mache gerne Sport. Wenn ich es schaffe, ein Gleichgewicht herzustellen, dann bin ich glücklich und kann auch meine Tochter glücklich machen.“
Mut als Motor des Lebens
Da Melissa Perlinger schon in jungen Jahren gelernt hat, Entscheidungen zu treffen, ohne zu wissen, was auf sie zukommt, hat sich das zu ihrem Lebensmotto entwickelt: „Ich glaube, Mut ist der Motor meines Lebens. Auch wenn ich bei Herausforderungen oft Angst verspürt habe, habe ich meine Ziele erreicht.“ Ihr hat es geholfen, in kleinen Schritten vorzugehen. „Wenn man nur das große Ziel sieht, dann ist das so weit weg, dass man denkt, das schaffe ich nicht. Aber wir können mehr, als wir denken.“
„Frauen sollten viel, viel mehr auf sich vertrauen! Häufig haben sie Angst, ob das, was sie sich wünschen, funktioniert. Sie sollten es einfach versuchen. Jeder Versuch ist es wert.“