Die Macherin
Christina Ramgraber ist Sozialunternehmerin aus Überzeugung. Zusammen mit ihrem Geschäftspartner gründete sie die sira Kinderbetreuung. Ihr Wirkungsbereich: betrieblich unterstützte Mini-Kitas und Großtagespflegen. Die entwickelten Geschäftsmodelle basieren auf Kooperationen und einem New-Work-Konzept, das viel Freiheit bietet. Darüber hinaus engagiert sich die Geschäftsführerin auch in vielen anderen Bereichen für mehr Chancengerechtigkeit.
Inhaltsverzeichnis
- Christina Ramgraber: einfach machen
- Über Geschlechts-Watschn und patriarchale Strukturen
- Gründerin und Unternehmerin aus Leidenschaft
- Neue Wege zur Vereinbarkeit von Kind und Beruf
- 3 Fragen zur Rolle der Frau
- Sira und das New-Work-Konzept
- Wirken statt Konkurrieren
- Netzwerken für mehr Chancengerechtigkeit
- Wie es ist, Vorbild zu sein
Christina Ramgraber: einfach machen
In ihrem Leben fiel es ihr nie schwer, persönlich gesetzte Ziele zu verfolgen. Mut sei ihr in die Wiege gelegt worden, erzählt Christina Ramgraber: „Ich habe früh bemerkt, dass ich stark bin und Kraft habe. Risiken messe ich weniger Bedeutung bei, ich konzentriere mich auf die Chancen.“ Nach ihrem BWL-Studium in Landshut und Cambridge startete sie zunächst im Vertrieb eines Unternehmens. Als die Arbeit zur Routine wurde, wollte sie etwas ändern. Gemeinsam mit einem Arbeitskollegen dachte sie über berufliche Alternativen nach. Beide waren auf der Suche nach einer neuen, sinnstiftenden Tätigkeit. Christina Ramgraber hatte sich in ihrer Abschlussarbeit zum Thema Fachkräftemangel unter anderem mit der Rolle der Frauen beschäftigt, die in Teilzeit arbeiteten. Sie kam zu dem Schluss, dass es neue Geschäftsmodelle braucht, um Beruf und Familie besser zu vereinen. Die Idee, Angebote für betriebliche Kitas zu entwickeln, wurde geboren. 2013 gründete sie mit dem Kollegen zusammen erst die sira Projekte GmbH und später die sira Kinderbetreuung gGmbH. Zunächst vermittelten sie Träger an Unternehmen, um betriebseigene Kitas und Großtagespflegen aufzubauen. Später übernahm sira den Betrieb der eigenen aufgebauten Kitas selbst. Für ihre unternehmerischen Erfolge erhielt Christina Ramgraber 2023 den Münchner Wirtschaftspreis LaMonachia. „Geht nicht gibt’s nicht“, sagt sie. „Ich sehe ein Ziel, eine Notwendigkeit, und ich sehe einen Weg, wie mir das gelingt. Und dann geht’s los.“
Formen der Kinderbetreuung
In Bayern gibt es verschiedene Formen der Kindertagesbetreuung. Neben den „klassischen“ Angeboten wie Krippe, Kindergarten oder Hort sind auch Formen mit flexibleren Strukturen wie der Großtagespflege oder der Mini-Kita sowie familiennahen Formen wie der Kindertagespflege möglich.
Das Konzept der Mini-Kita wird beispielsweise seit 2019 modellhaft erprobt. Unterschied gegenüber einer regulären Kindertageseinrichtung: Es können maximal zwölf gleichzeitig anwesende Kinder betreut werden. Die Anzahl der Betreuungsverhältnisse ist jedoch im Gegensatz zur Großtagespflege nicht begrenzt. Eine Kindertagespflegeperson, die über eine Zusatzqualifikation als Ergänzungskraft verfügt, kann in den Anstellungsschlüssel eingerechnet werden.
Bei der Großtagespflege können sich bis zu drei Tagespflegepersonen zusammenschließen und in gemeinsamen Räumlichkeiten Kinder betreuen. Es können bis zu zehn gleichzeitig anwesende Kinder betreut werden. Ab Anwesenheit des neunten Kindes muss eine der Tagespflegepersonen die Qualifikation einer pädagogischen Fachkraft haben. Wichtig: Die Tagespflegepersonen betreuen in der Regel nur die Ihnen zugewiesenen Kinder (feste Zuordnung von Tagespflegeperson und Kinder).
Weitere Infos rund um das Thema Kinderbetreuung finden Sie auf der Website des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales.
Über Geschlechts-Watschn und patriarchale Strukturen
Dass in der Gesellschaft die Rollen von Frauen und Männern klar verteilt sind, fiel Christina Ramgraber schon früh auf. Nach ihrer Kommunion im Alter von neun Jahren wünschte sie sich, Ministrantin zu werden. Da weibliche Messdiener erst 1994 zugelassen wurden, erteilte der Pfarrer ihr damals eine Absage: „Das war meine erste Geschlechts-Watsch’n“, sagt sie lachend. Ihr war vorher nicht aufgefallen, dass alle Messdiener männlich waren. „Bis zu diesem Ereignis waren Ministranten für mich geschlechtslos. Doch danach habe ich mehr auf Geschlechterrollen geachtet.“ Obwohl im Lauf der Zeit patriarchale Strukturen aufgeweicht worden seien, säßen an den entscheidenden Stellen nach wie vor eher Männer als Frauen. Und das wirke sich auch darauf aus, was sich ändere und was nicht. In Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beschreibt Christina Ramgraber die Situation so: „Der öffentliche Haushalt wird von 75 Prozent Männern im Landtag gemacht, die das Vereinbarkeitsproblem nicht haben.“
Gründerin und Unternehmerin aus Leidenschaft
Bei der Gründung von sira lag der Fokus darauf, Unternehmen beim Aufbau einer eigenen Kita zu beraten. Einer der ersten Kunden war ein großes Unternehmen aus der Finanzbranche. Als sich das Kita-Konzept herumsprach und viele kleinere Unternehmen mit weniger Budget auf sie zukamen, dachten Christina Ramgraber und ihr Geschäftspartner über neue Modelle nach. Es entstand die Idee, Großtagespflegen zu gründen, die im kleinen Rahmen Betreuungsplätze schaffen: „Ich nenne das immer die ,doppelte Tagesmutter‘. Das bedeutet, es sind immer zwei bis drei Betreuungspersonen, die bis zu zehn Kinder betreuen.“ Sie suchten für ihre Kunden Räume in der Nähe des Arbeitsplatzes und gaben den Betrieb an örtliche oder private Träger ab. In den ersten Jahren arbeiteten die beiden Geschäftsführer mehr oder weniger ehrenamtlich für sira und verdienten ihren Lebensunterhalt auf andere Weise. 2017 entschieden sie sich dafür, Großtagespflegen aufzubauen und diese selbst zu betreiben. Die Social Entrepreneurship Akademie unterstützte sie von Anfang an bei der Gründung. FASE, die Finanzierungsagentur für Social Entrepreneurship, half bei der Finanzierung. Heute verfügt sira über 40 Standorte, die sie selbst betreibt – in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Für diese Erfolgsstory braucht es kein Studium. „Wenn man BWL studiert hat, kann man einen Jahresabschluss lesen. Aber ich wusste beispielsweise nichts über Pädagogik oder das Baurecht. Als Unternehmerin eigne ich mir immer neues Wissen an. Das ist immer sehr spannend und macht Spaß.“
„Das Unternehmerische hat eher was mit der Persönlichkeit zu tun. Das hat man in seiner DNA – das Anpacken, das Machen.“
Soziale Unternehmen gründen
Sozialunternehmen verfolgen mit unternehmerischen Methoden innovative Ansätze, um dazu beizutragen, gesellschaftliche Herausforderungen – wie beispielsweise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder den Fachkräftemangel, zu meistern.
Gründungsinteressierte und frisch gegründete Initiativen können sich an den vom Bayerischen Sozialministerium geförderten Social-Startup-Hub Bayern (SSHB) wenden. Diejenigen, die mit ihrer Gründung nachhaltig wirtschaften und einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen wollen, werden dort kostenlos beraten. Als zentrale Anlaufstelle kann der SSHB darüber hinaus vernetzen, beispielsweise auch an Angebote der Gründerförderung.
Weitere Informationen finden Sie auf der Website Social-Startup-Hub Bayern.
Neue Wege zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Christina Ramgraber möchte Familien bei der Betreuung ihrer Kinder entlasten. Und sie möchte vor allem Frauen ermutigen, sich von tradierten Rollenbildern zu lösen. Ihr Vorbild sind skandinavische Länder, wo familienfreundliche Arbeitsmodelle und ein moderneres Rollenverständnis selbstverständlicher sind. „In Westdeutschland werden vor allem immer noch die Frauen in der Pflicht gesehen, Kinder zu erziehen.“ Das Verständnis von der fürsorglichen Mutter, die im besten Fall etwas dazuverdienen kann, hält Christina Ramgraber für gefährlich. Denn es hindert Frauen daran, neue Wege zu gehen. „Und ich sorge mich tatsächlich, dass die Gesellschaft mit zunehmenden Krisen wieder in patriarchale Strukturen zurückfällt, statt neue Strukturen aufzubauen.“ Dem möchte sie mit progressiven Ideen entgegenwirken. Vom Aufbau betrieblicher Kitas profitieren beide Seiten: Familien erhalten eine auf ihre Arbeitssituation abgestimmte Betreuung, Unternehmen steigern ihre Attraktivität als familienfreundlicher Arbeitgeber. Das Verhältnis zueinander verändert sich: „Unsere Hoffnung ist, dass das Verständnis füreinander wächst“, sagt Christina Ramgraber. Außerdem findet sie, dass sich Unternehmen stärker in das gesellschaftliche Leben einbringen sollten. So könnten sie auch dazu beitragen, dass neue Gesetze auf den Weg gebracht werden, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. „Dass die Kinderbetreuung ab Vollendung des ersten Lebensjahres bis zur Einschulung gesetzlich verankert wurde, ist beispielsweise ein wichtiger Schritt.“
„Viele Frauen trauen sich vieles nicht zu, weil es keine sichtbaren Beispiele dafür gibt.“
Familienpakt Bayern
Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kontinuierlich zu verbessern, haben die Bayerische Staatsregierung, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (vbw), der Bayerische Industrie- und Handelskammertag e. V. (BIHK) und der Bayerische Handwerkstag e. V. (BHT) den Familienpakt Bayern geschlossen. Dieser ist ein wichtiger Baustein, um das Thema in der unternehmerischen und staatlichen Wahrnehmung sichtbarer zu machen. Weitere Infos finden Sie auf der Website „Familienpakt Bayern“.
3 Fragen zur Rolle der Frau
Aus meiner persönlichen Perspektive steht in den Gesetzen eine Gleichberechtigung, die in der Realität noch lange nicht erreicht ist. Dazu zählen viele strukturelle Komponenten, wie beispielsweise Ehegattensplitting. Ich sehe zwar, dass an einigen Stellen auch viel passiert ist. Aber mir geht es viel zu langsam. Ich finde es erschreckend, wie viel uns immer noch davon abhält, tatsächlich ein modernes Frauenbild zu etablieren. Ohne Quoten geht es aus meiner Sicht grundsätzlich nicht. Das haben wir lange probiert. Und wenn wir eine Quote fordern, dann sollten es 50 Prozent sein.
Frauen macht stark, wenn sie sehen, dass andere Frauen auch etwas bewirken können. Davon bin ich überzeugt. Das Thema Vorbilder ist ein ganz, ganz großer Hebel, was wieder heißt: Mehr Sichtbarkeit von weiblichen Erfolgen, wie beispielsweise im Sport. Ein Hoch also darauf, dass nach einigem Hin- und Her die Frauen-Fußball-WM 2023 im Fernsehen übertragen wurde.
Ich wünsche mir, dass viele Frauen die Stärke besitzen, Chancen zu sehen und weniger mit den Herausforderungen und Problemen kämpfen müssen. Durch einige Entwicklungen in den letzten Jahren ist ein großer Schritt gelungen und wir sprechen Themen wie zum Beispiel verschiedene Formen von Gewalt eher aus. Um Frauen zu unterstützen, müssen wir auch im Arbeitsumfeld neue Kommunikationsangebote machen. Ich engagiere mich beispielsweise dafür, Safespaces im Arbeitsumfeld zu schaffen. Da muss noch mehr passieren. Dafür engagiere ich mich.
Sira und das New-Work-Konzept
Egal ob Mini-Kita oder Großtagespflege – die Unternehmensphilosophie von sira basiert auf den Grundwerten Spaß, Individualität, Respekt und Achtsamkeit. Das Besondere: Jeder Standort kann sein eigenes Hauskonzept entwickeln. Das heißt, die direkte pädagogische Arbeit wird den betreuenden Teams überlassen. Sie können selbst entscheiden, ob sie nach Montessori vorgehen möchten oder andere Methoden wie beispielsweise eine tier- oder musikgestützte Pädagogik verfolgen. „Die Vorgaben des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplans kann jedes Team umsetzen, wie es mag. Das unterscheidet uns von anderen Trägern“, erklärt Christina Ramgraber, die einen New-Work-Ansatz verfolgt. Dieser beinhaltet unter anderem einen besonderen Führungsstil. „Ich vertraue auf die Fähigkeiten meiner Kolleginnen und Kollegen und erteile ihnen auch die Erlaubnis, Fehler machen zu dürfen. Egal, wie viel Know-how oder Expertise jemand besitzt – entscheidend ist für mich, auf Augenhöhe zu arbeiten.“ Nach diesem Credo leitet sie sira gemeinsam mit ihrem Kollegen.
Das New-Work-Konzept umzusetzen, sei mitunter schwierig, da der soziale Bereich stark hierarchisch geprägt ist. „In einer Kita-Gruppe gibt es eine pädagogische Fachkraft, eine Ergänzungskraft oder Drittkraft und Auszubildende – und zwar genau in dieser hierarchischen Reihenfolge. Das ist Gaga“, findet Christina Ramgraber. „Auch wenn alle nach ihrem jeweiligen Ausbildungslevel bezahlt werden, sind bei uns explizit alle dazu aufgerufen, sich über Hierarchien hinwegzusetzen. So können sich alle einbringen, wann immer es ihnen sinnvoll erscheint."
Wirken statt Konkurrieren
Sich für innovative Konzepte zu öffnen, hält Christina Ramgraber gerade im Kita-Bereich für dringend erforderlich. „Für unser Unternehmen zählt der Wirkungsgedanke. Das heißt, es ist schön, wenn sira groß wird. Noch schöner ist, wenn sich andere bei uns etwas abschauen und es genauso machen. Selbst wenn wir groß werden, sind wir immer noch kleiner als die großen Träger in diesem Bereich.“ Bei sira sind circa die Hälfte der Standorte an Unternehmen angedockt. Daneben gibt es Standorte, die in Kooperation mit der jeweiligen Kommune geführt werden. „Mein Ziel ist, sira zu einem profitablen mittelständischen Unternehmen zu machen und mich selbst abzuschaffen. Dann wäre es eine sich selbstorganisierende Institution, darauf arbeiten wir hin.“
Netzwerken für mehr Chancengerechtigkeit
Neben dem „Anpacker-Gen“ verfügt Christina Ramgraber über eine schier unerschöpfliche Neugierde und Freude am Austausch mit anderen: „Ich rede mit jedem, der mit mir reden möchte.“ Als überzeugte Netzwerkerin ist sie fest davon überzeugt, dass Herausforderungen nur dann gelöst werden können, wenn Menschen miteinander sprechen. „Schwierig wird es erst, wenn wir aufhören zu reden.“ Sie selbst engagiert sich in vielen Verbänden wie beispielsweise der IHK, um Veränderung in der Kinderbetreuung voranzubringen. Rückschläge nimmt sie meistens gelassen. Ihre Erfahrung hat gezeigt: „Beharrlichkeit ist tatsächlich etwas, was sich auszahlt.“
Wie es ist, Vorbild zu sein
Christina Ramgraber ist stolz auf den Wirtschaftspreis, den sie für ihre unternehmerischen Erfolge erhalten hat. Und sie stellt sich gerne als Vorbild zur Verfügung. „Mir haben Vorbilder gefehlt. Und ich selbst lerne auf meinem unternehmerischen Weg so viel von anderen Frauen.“ Sie räumt ein, dass auch sie Phasen hat, in denen sie sich zusammenreißen muss und die sie viel Kraft kosten. „Mein persönliches Ziel ist, dass ich es schaffe, mir meine Stärke und meinen Idealismus zu bewahren – trotz all der Widerstände in meiner Position als weibliche Geschäftsführerin.“
„Wenn ich weiß, dass etwas verändert werden soll, dann ist es nicht schlimm, wenn es in zwei Jahren nicht erledigt ist, dann kann es auch 20 Jahre dauern. Diesen Mut zur Langstrecke braucht es hin und wieder, um etwas in Gang zu setzen.“