Die Krisengestärkte
Im Alter von 30 Jahren übernahm Helen Orgis eine Führungsrolle in der Marketingabteilung eines Unternehmens in der Tech-Branche. Nebenberuflich engagierte sie sich als Beraterin im Start-up-Ökosystem. Allerdings durchkreuzte eine nicht geplante Zwillingsschwangerschaft ihre Karrierepläne. Als ihre beiden Töchter auf die Welt kamen, hoffte sie zunächst, weitermachen zu können wie zuvor. Doch eine postnatale Depression zwang sie zum Innehalten. Gemeinsam mit ihrem Mann meisterte sie die Krise und richtete ihr Leben neu aus.
Über …
Im Winter 2019 erfüllte sich für Helen Orgis ein lang ersehnter Wunsch: Sie bekam von ihrem Arbeitgeber – einem international agierenden Technologie-Unternehmen – das Angebot, eine fachliche Führungsposition einzunehmen. Ihr Plan, mit 30 Jahren „Head of Content Strategy & Digital Growth“ zu werden, ging auf. Sie beschäftigte sich mit digitalen Wachstums- und Marketingstrategien und wollte zeigen, dass auch im Industriekontext kundenorientiertes Storytelling funktionieren kann. Doch ihre Karriereambitionen wurden ausgebremst. Anfang 2020 – zu Beginn der Pandemie – erfuhr sie von ihrer Schwangerschaft. Nach der Geburt ihrer Zwillinge nahm sie zwar schnell nebenberuflich wieder Projekte an, stellte allerdings fest, dass sie seelisch aus dem Gleichgewicht war. Ursache dafür: eine postnatale Depression. Helen Orgis setzte alle Hebel in Bewegung, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Gemeinsam mit ihrem Mann und einem neu gewonnenen Netzwerk an Unterstützern und Unterstützerinnen gelang es ihr, sich ein neues und glückliches Leben mit Kindern und Beruf aufzubauen. Was ihre Karriere angeht, haben sich ihre Prioritäten verschoben.
Neue Modelle braucht's: Helen Orgis im Gespräch mit Daniela Arnu (Bayerischer Rundfunk).
Daniela Arnu: Herzlich willkommen zu einem weiteren Podcast in der Reihe „Bayerns Frauen. Jede anders stark!“. Und ich freue mich sehr, heute Helen Orgis im Studio begrüßen zu dürfen. Hallo!
Helen Orgis: Hallo! Ich freue mich sehr, hier zu sein.
Daniela Arnu: Frau Orgis, Sie sind vom Sozialministerium ausgewählt worden als eine der besonders starken Frauen in Bayern. Wann haben Sie in letzter Zeit das Gefühl gehabt, Sie sind stark? Gab es da einen Moment, der Ihnen einfällt?
Helen Orgis: Das ist eine super Frage! Tatsächlich fühle ich mich stark. Das war ein Prozess. Das würde ich jetzt nicht sagen, dass es vor ein paar Jahren der Fall war, vor allem nicht im ersten Jahr nach der Geburt der Kinder. Aber seit ein, zwei Jahren fühle ich mich tatsächlich sehr gut, und ich würde sagen, ich fühle mich konstant in mir und damit auch stark.
Daniela Arnu: Was alles vorgefallen ist und wie Sie zu diesem Punkt gekommen sind, darüber wollen wir heute sprechen. Ich darf hoffentlich verraten, Sie sind Jahrgang 89, also eine junge Frau, die schon viel gestemmt hat. Vielleicht schon so viel vorweg: Sie haben es gerade selber gesagt, Sie sind erfolgreiche Unternehmerinnen, aber auch Mutter von Zwillingen. Die sind jetzt drei Jahre alt. Ich würde gerne mit Ihnen vor die Schwangerschaft springen. Sie haben ein tolles Karriereangebot bekommen, 2019 in der Tech-Branche. Wie war Ihre erste Reaktion, als junge Frau, also mit gerade mal 30, so einen Job angeboten zu bekommen?
Helen Orgis: Ich muss sagen, das war für mich so, man sagt ja so, der Pivot, das Ziel, was ich hatte, für mich: Mit 30 wollte ich „Head of“ sein. Ich bin eine sehr ambitionierte Person, und ich war schon seit ein paar Jahren in dem Unternehmen. Ich fühlte mich sehr wohl, ich kannte die ganzen Baustellen. Ich bin eine Person … ich gehe gerne in die Vogelperspektive, und ich hatte da einfach ein Feld entdeckt, wo ich wachsen kann, und das auf mehr Ebenen, also europaweit.
Daniela Arnu: Vielleicht können Sie einen Satz zu der Firma sagen.
Helen Orgis: Genau, das war ein Technologieunternehmen, PTC, das Industriesoftware herstellt, unter anderem Internet of Things, Augmented Reality, supermoderne Zukunftsfelder, Zukunftstechnologien. Ich war da echt zu Hause. Ich war in der Automobilindustrie, Versicherung, Telekommunikation. Und das war das erste Mal so, dass ich ein Unternehmen und eine Branche gefunden hatte, da war ich zu Hause. Die Kollegen waren cool, die Themen waren spannend, ich hatte so viel Freiheiten, ich konnte mich entwickeln. Ich hatte, ich sage es mal, den besten Chef der Welt, Bernd, falls du zuhörst. Ich wurde gefördert und gesehen, und das war so mein Ziel. Und dann gab es sozusagen die Möglichkeit: Ich wusste Ende 2019, dass ich 2020 diese Head-of-Stelle bekommen kann und diese Aufgabe übernehmen kann, und das war für mich das Größte. Ja, ich war … ich war angekommen, das war mein Ziel.
Daniela Arnu: Und es sollte aber anders kommen. Sie haben dann relativ bald festgestellt, total überraschend, dass Sie schwanger sind. Wie war der Moment, als die Ärztin gesagt hat, es sind zwei?
Helen Orgis: Ja, das war ein Schock. Wie gesagt, das war nicht geplant. Mein Mann war damals noch mit, das war der erste und auch der letzte Termin, wo er mit zur Frauenärztin durfte. Danach war Pandemie. Und ich erinnere mich, es war schon eine Freude in mir irgendwie, eine positive Überraschung, aber auch der Schock: Was passiert jetzt? Wie kann das gehen? Wie? Was bedeutet das für mich? Ich habe sehr, sehr schnell direkt an den Job gedacht. Ich dachte: Wie soll das gehen? Wie kann das gehen?
Daniela Arnu: War es auch schwierig für Sie, weil Sie so eine Planerin sind? Ich meine, wenn man schwanger ist … und noch dazu Zwillinge, dann muss man ja erst mal tief durchatmen und sagen, da lässt sich jetzt vermutlich gar nichts richtig planen.
Helen Orgis: Das kann ich so nicht sagen. Ich war, glaube ich, zu entspannt. Ich dachte so, na ja gut. Ich habe mich halt umgeschaut, ich war stark am Netzwerken. Ich kannte viele Frauen, die beides toll gestemmt haben: Vollzeit, Kinder, und nicht nur zwei, sondern teilweise mehr. Und ich dachte, das ist eine Frage der Planung, eine Frage der Organisation. Ich bin extrem fleißig, ich bin sehr streng, auch zu mir selbst, und ich schaff’ das. Ich habe auch tatsächlich die Schwangerschaft – jetzt eigentlich total krass, wenn man das reflektiert … ich habe hochschwanger mit Zwillingen im Homeoffice bei Pandemie noch Vollzeit gearbeitet, habe sogar noch einen Job angenommen in meiner Selbstständigkeit und habe ein Start-up begonnen zu coachen für seinen Go-to-Market, habe noch an Hackathons teilgenommen. Also, ich habe das alles gar nicht umrissen, was da auf mich zukommt. Ich habe das echt auf die leichte Schulter genommen.
Daniela Arnu: Das heißt … Sie haben ja gerade vorhin schon gesagt, dass Sie sich seit zwei Jahren stark fühlen. Alle, die rechnen können, wissen, okay, das war dann 21, und Sie haben 2019 gesagt, dass Sie sich wirklich gut fühlen. Das heißt, dieses Krisenjahr war dann wohl das Jahr 20 und Anfang 21. Was war die Krise? War das dann tatsächlich die Geburt der Kinder? Also, Ihre Kinder lieben Sie über alles, aber einfach diese Sache, da kommen zwei Kinder und werfen alles über den Haufen?
Helen Orgis: Ich dachte wirklich, ich kann einfach so weitermachen, und es sind einfach Kinder da, und ich muss den Tag anders planen. Und ich werde müde sein, weil alle sagen dir, du wirst müde sein, aber keiner ahnt, wie müde sein ist. Aber die Krise kam durch alles. Das war so vielfältig, so viele Schichten. Es begann bei meinem Körper. Ich hatte neun Monate lang Zwillinge in mir. Ich habe mich vollgepumpt mit Vitaminen, Mineralien – das ist das normale Prozedere. Ich hatte eine echt schlechte Nachversorgung. Ich hatte eine natürliche Geburt. Ich hatte nach der Geburt Zeit auf der Intensivstation verbracht, weil ich so viel Blut verloren hatte. Die Wochenbettstation war überfüllt, ich bin entlassen worden. Mir wurde nur noch schnell gezeigt, wie ich mein Kind zu waschen habe. Das hatte vorher einfach niemand gezeigt. Wir waren allein. Und dann mein Mann und ich direkt im Lockdown, und ich hatte so viele körperliche Themen. Mir fehlte so vieles … wirklich die Basics: Vitamine, Mineralien, Schlaf bis hin zu der Hormonumstellung. Emotional … ich bin jetzt Mutter, ich habe aber noch gar keine Verbindung zu den Kindern. Das ist auch erst mal etwas, was aufgebaut werden muss. Die Kinder sind ja nicht da, du guckst die an und sagst: „Hey, cool, du gehörst zu mir, ich liebe dich unendlich.“ Du denkst erst mal: „Aha, da seid ihr also, ihr seid also meine Kinder, cool!“ Also, das ist erst mal so. Du hast noch nicht diese tiefe Bindung, die ich jetzt zu den Kindern habe. Die hast du nicht. Und das lässt dich auch erst mal zweifeln: Ist das richtig so? Warum liebe ich die jetzt nicht abgöttisch? Warum weiß ich jetzt nicht, was ich automatisch tun muss? Und das waren ganz, ganz viele Themen, und ich bin einfach nicht mehr aus diesem Loch rausgekommen, und es war auch niemand da.
Daniela Arnu: Sie haben auch nicht gearbeitet in der Zeit.
Helen Orgis: Nein, ich habe ein Jahr lang nicht gearbeitet, das heißt, also in der Festanstellung, nebenberuflich habe ich schon was gemacht.
Daniela Arnu: Das heißt, Sie hatten dieses eine Jahr … und Sie gehen ja sehr offen damit um … im Gegenteil, es ist sogar noch wichtig für Sie, dass Sie sagen, Sie sind in eine Wochenbett- oder postnatale Depression gerutscht. Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
Helen Orgis: Am Anfang habe ich mich sehr schwer damit getan, weil klar, man hat Schlafmangel, und man ist gereizt, und man fühlt sich außerhalb des Körpers. Der Körper macht so viel durch, und man fühlt sich einfach irgendwie wie verrückt. Man ist wie außerhalb seines Körpers, und man ist ständig fremdkontrolliert, und das ist schon schwer genug. Ich möchte jetzt hier auch sagen … und dass ist für jemanden, dem es nicht gut geht, also vielleicht auch ein kleiner Hinweis: Ich hatte dann einfach wirklich sehr selbstverletzende Gedanken – nicht im Sinne von „ich möchte wirklich mein Leben beenden“ oder so etwas, sondern wirklich, ich dachte so verrückte Sachen während des Spaziergangs: Ich dachte mir, wenn mich jetzt ein Auto anfährt, kann ich einfach ein paar Wochen im Krankenhaus verbringen, und jemand anders muss sich um die Kinder kümmern und jemand muss sich um mich kümmern. Ich hatte solche Gedanken und war aber auch sofort erschrocken darüber. Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen, und es gab auch Momente, da war ich immer noch in diesem Loch, und alle, mit denen ich den Geburtsvorbereitungskurs virtuell hatte, die waren irgendwie schon gefühlt wieder in einer anderen Phase. Am Anfang ging es uns allen gleich: Babyblues, so nennt man das ja. Aber dann gab es eben die Phase, wo die anderen weitergingen und eine andere emotionale Ebene erreicht hatten, die ich nicht mehr erreichen konnte. Und ich merkte stattdessen, ich blieb da. Es wurde aber immer noch schlimmer. Es gab sogar Momente, da habe ich wirklich die Kinder angeschaut und dachte, die arbeiten gegen mich, die haben sich gegen mich verschworen. Und dann – ich bin ja ein rational denkender Mensch – sage ich, das kann doch nicht sein! Das sind Babys, die können sich nicht gegen dich wenden, die haben Bedürfnisse. Also, ich wusste, da ist was nicht in Ordnung. Und ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen. Das Verrückte aber war, niemand sagte zu mir: „Helen, hol dir mal Hilfe!“ Das kam aus mir raus, dass ich irgendwann zu meinem Mann gesagt habe: „Weißt du, ich glaube, ich habe eine Depression.“ Und er hat gesagt: „Dann musst du mit deiner Ärztin sprechen.“ Und alles, was danach kam, war genauso verheerend wie die Nachsorge. Das war so: „Also, okay, Frau Orgis, Sie denken, Sie haben eine Depression. Hier haben Sie einen Flyer, lesen Sie sich den mal durch. Sie können hier bei der Hotline anrufen, und vielleicht checken Sie mal bei der Krankenkasse, ob Sie so was wie eine Haushaltshilfe bekommen können.“ Das war emotionslos. Da war nix, da war keine Wärme, das war so: Ah okay, noch so eine Mutter, das vergeht schon wieder, haben ja viele. Das ist tatsächlich so: 15 bis 20 Prozent der Frauen in Deutschland leiden an einer postnatalen Depression. Das sind die Zahlen, die wir kennen. Ich denke, die Dunkelziffer wird höher sein. Ich glaube einfach, ein Viertel der Mütter, und da reden wir von ungefähr 150 000 Frauen pro Jahr, hat eine Depression nach der Geburt mit verheerenden Konsequenzen für sich.
Daniela Arnu: Aber auch für die Kinder, also, es betrifft ja die ganze Familie am Ende. Und was haben Sie dann gemacht?
Helen Orgis: Da kam dann wieder so ein bisschen … ich bin auch Sternzeichen Löwe … und da habe ich wieder so ein bisschen Feuer in mir gespürt. Das war der erste Moment, wo ich gespürt habe, irgendwie fühlt sich das falsch an. Das kann nicht richtig sein. Wieso darf ich mich so fühlen? Und niemand, gerade auch von den Gesundheitsinstituten, ist für mich da, und ich habe dann wirklich telefoniert.
Daniela Arnu: Aber da braucht man ja auch noch die Kraft dafür. Also, das ist auch nicht selbstverständlich, dass man die in so einem Moment dann hat.
Helen Orgis: Und da war mein Partner da. Also, da muss ich wirklich sagen, dass mein Mann, aber dann auch meine Mutter … als ich dann gesagt habe: „Ich glaube, ich habe eine Depression, und ich muss mir Hilfe suchen.“ Aber das musste halt von mir kommen. Aber dann war meine Familie schon so, dass sie dann sehr stark geschaut haben: Okay, was kann sie tun oder was können wir tun? Wo kann sie sich Hilfe suchen? Niemand weiß das, niemand sagt dir das auch. Das ist viel selbst erfragen. Und ich habe mir dann über die Krankenkasse eine Haushaltshilfe, eine Familienbetreuerin, erkämpft, die ab und zu bei uns war für ein paar Stunden. Das war eine Erleichterung, aber ich merkte, das ist es nicht. Da ist so viel in mir kaputtgegangen, seelisch nach der Geburt. Ich brauche andere Hilfe. Und dann habe ich – man muss es leider sagen – bei den Psychologen und Psychotherapeuten in der Stadt, wo ich lebe, Klinken geputzt, ich habe dort angerufen.
Daniela Arnu: Das ist halt auch immer schwierig. Das weiß jeder, der schon mal gesucht hat, dass es gerade wahnsinnig schwer ist, kurzfristig jemanden zu finden.
Helen Orgis: Ich bin da einfach aufgetaucht, und es war Pandemie. Die meisten waren total erbost, dass ich einfach auf der Matte stand. Ich habe gesagt: „Mir geht's nicht gut. Ich habe zwei kleine Kinder. Und wenn Sie wollen, dass es denen und mir lange gut geht, dann geben Sie mir jetzt einen Termin.“
Daniela Arnu: Was hat dann am Ende geholfen?
Helen Orgis: Lustigerweise nicht Therapie. Interessanterweise habe ich die Therapie im Dezember 2020 abgebrochen. Also, im August 2020 wurden meine Kinder geboren, ich begann mit der Therapie, ich glaube, Ende Oktober, und im Dezember habe ich sie abgebrochen.
Daniela Arnu: Was aber ja nicht unbedingt heißen muss, dass für jeden gilt, dass es ohne Therapie geht.
Helen Orgis: Nee, genau, das gilt nicht für jeden. Ich denke, es gibt durchaus Menschen, denen das unfassbar hilft. Aber ich merkte, die können mir nicht geben, was ich suche. Oder der Ansatz der Stunden war nicht da, wo mein Schwerpunkt vielleicht lag. Und das klingt jetzt verrückt, aber ich habe mir in einer schlaflosen Nacht ein Hörbuch heruntergeladen, und zwar „Untamed“ – „Ungezähmt“ – von Glennon Doyle. Und ich habe am nächsten Tag dann begonnen, das Hörbuch zu hören während der zahlreichen Kinderwageneinsätze. Und das Buch war für mich wirklich lebensverändernd. Sie sagt zum Beispiel in diesem Buch … es geht viel um diese Schubladen, in die Frauen gesteckt werden, aber wir uns auch selber stecken. Wie wir konditioniert werden, schon als kleine Mädchen, als kleine Kinder, welchen unfassbaren Schaden diese Konditionierung anrichten kann. Und sie sagt zum Beispiel von sich – sie ist selber Mutter –, sie wollte niemals als Märtyrerin wahrgenommen werden, nie die Mutter sein.
Daniela Arnu: … die alles opfert für ihre Kinder, für die Familie.
Helen Orgis: Genau, und ich habe zwei Mädchen. Und das war der Moment, wo ich sagte: „Was werden die beiden denken, wenn sie dich in paar Jahren sehen oder jetzt zurückgucken könnten? Du musst was machen.“ Ich habe das Buch „durchgesuchtet“ innerhalb von wenigen, ich glaube, zwei Tagen. Dann hatte ich das durch. Es war wirklich, ich – man darf das gar kann nicht sagen – ich habe so geheult. Man muss sich eine Zwillingsmutter im Winter vorstellen mit einem Zwillingswagen im Park, schluchzend, hysterisch weinend. Und dann habe ich mich hingesetzt und habe eine Methode angewandt, um mich komplett überhaupt mal wieder zu finden. Und das ist die Grow-Methode. Es ist eine etablierte Methode im Coaching. Ich wusste nicht, dass das die Grow-Methode ist. Es ist einfach eine Art und Weise, wie ich vorgegangen bin. Ich habe später erst herausgefunden, dass das auch im Coaching angewendet wird. Und mit dieser Methode habe ich unbewusst fast alle Bereiche, wo es mir schlecht ging, radikal neu aufgestellt.
Daniela Arnu: Hm, ich möchte noch mal gerne zurück zum Thema Depression und dass Ihnen nicht wirklich geholfen wurde. Zum einen haben Sie erlebt, dass es immer noch ein Tabuthema ist. Und ich meine, auch wenn Sie es so beschreiben, man könnte ja jetzt hier sitzen und sagen, die spricht aber gar nicht gut von ihrem ersten Jahr mit den Kindern, und es klingt ja so, als ob sie sie gar nicht so richtig geliebt hätte. Ist das aus Ihrer Sicht ein Tabuthema?
Helen Orgis: Absolut, es ist … Wo soll ich anfangen? Ich meine, es gäbe so viele Möglichkeiten, schon das Thema zu enttabuisieren und auf den Tisch zu bringen, und zwar während der Schwangerschaft, bei den zahlreichen Frauenarztbesuchen, beim Geburtsvorbereitungskurs, bei den Vorgesprächen mit der Hebamme. Ich hatte auch viele Bücher zu Hause, da war postnatale Depression kein Thema. Ich kann mich erinnern, es wurde hier und da mal der Babyblues erwähnt, dass es das gibt. Das wussten alle, und natürlich wusste ich auch, es gibt postnatale Depression. Aber man wird nicht vorbereitet, es wird nicht thematisiert. Und das, was ich erfahren habe, ist … als ich betroffen war … war etwas, was man ganz schnell abgehandelt hat mit Flyern und „Rufen Sie da mal an“ und „Kümmern Sie sich selber“. Da war keine Empathie. Das war wirklich etwas, was unangenehm für mich war. Ich habe auch das Gefühl gehabt, es tut mir leid, dass ich das jetzt ansprechen muss, aber ich glaube, ich bin depressiv, und ich habe zwei kleine Kinder zu Hause. Also ich denke, mir sollte geholfen werden, und ich kann nicht sagen, woran das liegt. Ich denke bis heute – nach vielen Gesprächen einfach mit anderen Müttern und auch Vätern –, dass man schon möchte, dass Elternschaft als etwas Positives wahrgenommen wird. Wir brauchen Kinder, wir brauchen die neue Generation, und wir brauchen auch die Mütter, die sich aufopfern. Wir brauchen die Mütter, die gerne Mutter sind.
Daniela Arnu: Aber das heißt – Sie sind ja jetzt wirklich jung, und es ist noch nicht so lange her, also die Kinder sind eben drei Jahre alt –, dass einfach in der Gesellschaft aus Ihrer Sicht sich an diesem Mutterbild oder an diesem Elternbild nicht wirklich was geändert hat. #00:17:14-2#
Helen Orgis: Ja, nee, mein Gefühl und das, was ich sehe, ist: Es wird besser, aber nach wie vor ist es so, dass die Mutter diejenige ist, die sich aufopfert. Die Mutter bringt die Kinder zur Welt, und sie ist die Familie.
Daniela Arnu: Wie gelingt es Ihnen denn zu Hause mit Ihrem Mann? Also, wie sind da die Rollen verteilt? Sie arbeiten auch wieder, also Sie sind ja gut beschäftigt. Da können wir gleich noch drüber reden, aber wie ist es Ihnen in der Familie gelungen?
Helen Orgis: Das ist so verrückt, weil ich es nicht anders kenne. Ich kenne meine Mutter nur Vollzeit arbeitend, meinen Papa auch, das wurde immer gerockt. Ich muss ehrlich sagen, dass meine Mutter da auch ein wahnsinniges Vorbild für mich war. Und mein Partner: Ich meine, Gleichberechtigung beginnt mit der Partnerwahl, das wissen wir alle. Ich hatte schon immer das Gefühl, in meinem Partner jemanden zu haben – selbst vor den Kindern –, der mich bedingungslos unterstützt. Und als die Kinder dann da waren, und da muss man sagen, mein Mann war zu dem Zeitpunkt Student, er war Mitte/Ende 30, hat studiert, und als die Kinder gekommen sind, hatte er Praxissemester, und trotz Pandemie war er in Präsenz dort. Das heißt, er ist morgens um sieben aus dem Haus. Wir beide schon eigentlich fast am Heulen, weil er wusste, sie ist jetzt acht, neun, zehn Stunden allein mit den Kindern. Und als er nach Hause gekommen ist, war das Erste, was er gemacht hat: Er hat die Kinder genommen – egal, wie es ihm ging, egal, wie sein Tag war, egal, ob es draußen geschüttet oder gestürmt hat –, er hat die Kinder genommen und ist erst mal anderthalb, zwei Stunden rausgegangen. Er wusste, sie kann nicht mehr, und das macht ja eine Partnerschaft aus. Und heute, Vollzeit arbeitend, ist es genauso. Es ist immer nur so: „Okay, ich habe hier einen Termin.“ „Ich aber auch.“ „Okay, wie machen wir das?“ Wie kommunizieren wir? Er kommuniziert genauso, ich kann da nicht, wie ich kommuniziere, ich kann da nicht.
Daniela Arnu: Haben Sie Hilfe von außen?
Helen Orgis: Ja, bis Anfang dieser Woche hatten wir noch ein Au-pair. Wir versuchen es jetzt tatsächlich erst mal ohne, sind aber offen, uns jederzeit wieder ein Au-pair zu holen. Das kann sich natürlich auch nicht jeder leisten, weil man dafür auch die Räumlichkeiten braucht. Wir haben einen Betreuungsplatz, auch erst mal für beide, bei dem Mangel an Erzieherinnen und Plätzen, den wir haben. Und wir haben die Kita im Prinzip fußläufig von uns entfernt, und ich muss wirklich sagen, wir haben die großartigsten Erzieherinnen, die unsere Situation kennen, die meine Situation kennen, und die sind genauso Teil meines Dorfes wie mein Mann und unser Au-pair.
Daniela Arnu: Also, das Dorf sprechen Sie gerade an, wo man sagt, es braucht ein Dorf, um Kinder zu erziehen, und Sie haben sich es selbst gebaut. Sie wohnen in der Nähe von München, in einem Ort. Was machen Sie beruflich heute? Also, wie gelingt Ihnen die Arbeit, und wo sind Sie gerade? Sind Sie an dem Punkt, wo Sie 2019 gesagt haben, da wollte ich immer hin?
Helen Orgis: Nein, ich bin keine Führungsperson mehr. Ich arbeite jetzt in einem anderen Unternehmen immer noch in einer Seniorrolle, aber auch in Vollzeit, in Festanstellung. Aber ich brauche dieses „höher, schneller, weiter“ einfach nicht mehr. Ich habe einfach andere Prioritäten gesetzt. Vor den Kindern wusste ich gar nicht, was Prioritäten sind, ehrlich gesagt. Ich habe zehn bis zwölf Stunden gearbeitet, habe auf tausend Hochzeiten getanzt. Ich habe nie den Weg reflektiert und in mich reingehört: Ist es das jetzt? Und ich arbeite jetzt bei dem Arbeitgeber, der unfassbar elternfreundlich ist, habe tolle Vorgesetzte, ein tolles Team und Themen, die spannend sind. Und das ist alles, was ich mag. Ich mag nicht mehr den Titel, ich mag nicht mehr höher, schneller, weiter. Das ist jetzt für mich wichtig, und ich bin nebenberuflich immer noch selbstständig. Ich arbeite immer noch mit Start-ups, also noch zusätzlich. Und das ist mir nur möglich, weil ich Flexibilität gewählt habe. Ich habe Flexibilität gewählt, ich kann meine Arbeitszeiten flexibel wählen, meinen Arbeitsort, und ich habe mir Menschen und Unternehmen – Partner – gesucht und Geschäftspartner mit den richtigen Werten, und das ist für mich jetzt wichtig.
Daniela Arnu: Das ist interessant, weil ich würde es so beschreiben, so wie ich Sie jetzt erlebe, dass Sie tatsächlich 2019 noch eine Frau waren, die wirklich im klassischen Sinne an Karriere geglaubt hat oder gedacht hat, Sie möchte Karriere machen. Heißt es, dass für Sie persönlich Karriere jetzt kein wichtiger Punkt mehr ist? Und dazu die Frage: Geht denn überhaupt Eltern oder Mutter und Karriere? #00:21:46-3#
Helen Orgis: Die Definition von Karriere hat sich verändert, denn ich habe eine Karriere, ich habe einen Job, den ich liebe. Ich tue Dinge, die ich liebe, und das ist für mich jeden Tag eine Weiterentwicklung. Und ich schließe Kinder und Karriere nicht aus. Aber zu dem Zeitpunkt jetzt, in dem ich jetzt stecke, bin ich emotional: Mir geht es einfach gut. Und ich fühle mich nicht bereit, jetzt Verantwortung für andere Menschen und für Riesenzahlen zu übernehmen. Das wäre in der Situation, in der ich bin … ich fühle mich noch nicht bereit. Werde ich in Zukunft bereit sein? Vielleicht, ich würde es bestimmt nicht ablehnen, in Zukunft, aber jetzt, die Kinder sind noch zu klein. Ich will nichts davon opfern. Ich habe mir das Dorf, mein Konstrukt, aufgebaut, es läuft, und ich muss das jetzt nicht wegen einem Titel oder ein paar 1000 Euro mehr aufs Spiel setzen. Das ist es mir nicht wert. Aber da Sie auch gefragt haben: „Geht es?“ Es geht, und Gott sei Dank bewegen sich einige Sachen in Deutschland, sodass es auch geht. Eine Bekannte von mir hat zum Beispiel eine Führungsrolle in Teilzeit, die macht Jobsharing, die teilt sich ihre Stelle. Es gibt neue Modelle, und das braucht es auch, wenn Frauen und vor allem Mütter in Führungspositionen sollen.
Daniela Arnu: Für uns eine kleine Schlussrunde im Sinne von „Was würden Sie Frauen raten heutzutage?“. Sie haben sich wie gesagt mit 19 als Frau im Beruf superstark gefühlt, dann kam die Schwangerschaft, dann kamen Zwillinge, die unbestritten einfach eine hohe Belastung sind. Sie sind in eine Krise gerauscht, und jetzt stehen Sie aber auch wieder Ihre Frau im Markt. Was würden Sie Frauen mitgeben, gerade jungen Frauen, die auch überlegen: Will ich eigentlich ein Kind oder keins?
Helen Orgis: Ich glaube, das Wichtigste ist – und das sagt sich jetzt so einfach – das Verständnis dafür, dass man sich nicht erst Hilfe erarbeiten muss, sondern dass man sie verdient.
Daniela Arnu: Das heißt, im System müsste sich was ändern?
Helen Orgis: Im System müsste sich was ändern, aber auch wirklich einfach am Mindset, denn mir ist aufgefallen, wenn du fragst und wenn du es einforderst, bekommst du es meistens auch. Vielleicht nicht immer sofort und vielleicht auch nicht in der Form, in der du es dir gewünscht hast. Aber du erhältst Unterstützung, und du musst es einfach nicht allein machen. Musst du nicht.
Daniela Arnu: Und natürlich, wie Sie vorhin auch gesagt haben, am Frauenbild arbeiten wahrscheinlich. Also, dass jede Frau, die es einigermaßen gut kann, auch da Vorbild ist, und man eben nicht immer dieses Frauenbild hat, dass die Frau sich aufopfert.
Helen Orgis: Ja, es ist tatsächlich so. Ich weiß nicht, ob man das zum Abschluss noch sagen kann, dass ich natürlich auch die Klischees an den Kopf geschmissen bekommen habe. „Rabenmutter“ habe ich auch schon zu hören bekommen. In meinem direkten Arbeitsumfeld nicht, aber ich habe es erlebt, dass Frauen, die Kinder haben und schnell wieder einsteigen, und dann auch in Vollzeit, dass sie natürlich auch eine bestimmte Art der Diskriminierung erfahren. „Kannst du das?“ „Bist du überhaupt schon bereit?“ „Wie sieht es mit ,Mumbrain‘ aus?“ „Hältst du durch, jetzt, so ein Projekt?“ Ich habe es persönlich nicht erlebt, aber Bekannte von mir. Und da muss man ganz einfach sagen, da haben wir noch sehr viel Arbeit, aber da können die Frauen auch viel, viel tun.
Daniela Arnu: Sie haben sich selbst häufig in den letzten Jahren so ein bisschen neu erfunden. Wie viel Mut braucht es, um sich selbst auch noch mal neu zu erfinden?
Helen Orgis: Eigentlich keinen Mut, nur loslassen.
Daniela Arnu: Aber loslassen beinhaltet ja wahrscheinlich auch Mut.
Helen Orgis: Ja, wahrscheinlich. Es ist also „loslassen lernen“ gepaart mit „mir meiner eigenen Potenziale eigentlich bewusst werden“. Also, was ist eigentlich mein wirkliches Potenzial? Und wo schöpfe ich aus mir heraus und wo nicht? Und wo shiften vielleicht auch Interessen von mir hin? Das ist zwar ein Prozess, aber auch hier kann ich einfach nur sagen, es hilft ungemein, wenn man einen Sponsor hat, wenn man einen Cheerleader hat. Das kann der eigene Partner sein, das kann die Mutter sein, es kann eine Freundin sein, einfach eine Person, die klarmacht und sicherstellt, dass man am Ball bleibt, und einfach nachfragt: „Hast du da angerufen?“ „Hast du das gemacht?“ „Bist du auf dem Weg dahin?“ „Kann ich dich unterstützen?“ „Brauchst du was?“ „Willst du drüber reden?“ Das hat mir unfassbar viel geholfen.
Daniela Arnu: Ein wunderbares Schlusswort, gerade eben in unserer Reihe „Bayerns Frauen. Jede anders stark!“. Da geht es auch tatsächlich um Vorbilder, um ein Netzwerk. Das haben Sie hier weiter fürs Sozialministerium belebt. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch heute.
Helen Orgis: Vielen herzlichen Dank.
Daniela Arnu: Alles Gute Ihnen und den Kindern. Und dem Mann auch. Danke schön!
Bildergalerie: Helen Orgis
Helen Orgis: Meine Botschaft …
Grow your village – bau dir dein Dorf. Du musst die Verantwortung nicht allein tragen und die Aufgaben nicht allein meistern. Niemand sollte das. It takes a village to raise a child – es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Dabei ist das Dorf nicht nur für das Kind da. Kinder brauchen nicht viel. Das Dorf sollte auch für dich als Mutter oder Vater da sein. So müssen wir dieses Sprichwort interpretieren und verinnerlichen.
Ich würde jeder Familie und allen werdenden Eltern empfehlen: Fordert Hilfe in allen Lebensbereichen ein! Und denkt nicht nur an Kinderbetreuung. Denkt an Haushalt, denkt an Finanzen – denkt an alles, was euch als Familie belasten und entlasten könnte. Und auch hier: Man muss sich die Hilfe als Eltern nicht erst verdienen. Sie steht uns zu!
Ich sehe meine Rolle als Mutter darin, dass ich zwei wundervollen Menschen zeigen kann, was sie in der Welt erreichen können. Ich bin ihr direktes Vorbild. Dabei gilt es, in erster Linie für mich selbst und meine Bedürfnisse sorgen, denn nur so ist es mir möglich, bestmöglich für meine Familie einzustehen. Meine Aufgabe als Mutter und Frau besteht nicht darin, der Gesellschaft oder meinem Arbeitgeber zu gefallen. Meine Aufgabe ist es nur, mir und meiner Familie ein gutes Leben zu bereiten. Alles andere ist dabei zweitrangig.