Die Fokussierte
In ihrem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen war Beyhan Calik Anfang der 1980er-Jahre die einzige Schülerin mit türkischer Herkunft. Ihre Erfahrungen als Gastarbeiterkind haben ihren Lebensweg entscheidend geprägt. Das Gefühl, sich ständig beweisen zu müssen, legte sie erst im Berufsleben ab. Heute ist sie Personalleiterin am Klinikum Nürnberg und setzt sich unter anderem für familienfreundliche Arbeitsmodelle ein.
Sich beweisen müssen
Beyhan Calik wurde 1976 in Nordrhein-Westfalen geboren. Ihre Eltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren, arbeiteten im Schichtdienst in Fabriken. Zu Hause sprach die Familie Türkisch, in der Schule und mit ihren Freundinnen verständigte sie sich auf Deutsch. Ein Balanceakt, der ihre Fähigkeit stärkte, sich in verschiedenen Kontexten zurechtzufinden. „Uns Gastarbeiterkindern wurde das Gefühl vermittelt, dass wir mit einem Makel behaftet sind, dass uns etwas fehlt“, sagt Beyhan Calik. „Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich mich mehr anstrengen muss als andere.“ Doch sie lernte, mit den Vorurteilen umzugehen, und verfolgte ihre beruflichen Ziele, ohne sich beirren zu lassen. Das gab ihr Selbstvertrauen. „Tatsächlich habe ich mich aber erst im Berufsleben als akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft gesehen.“
Als Kind in der Rolle der Eltern
Ihre Eltern, die ursprünglich vorhatten, nach ein paar Jahren in die Türkei zurückzukehren, lernten die deutsche Sprache nicht. So waren es die Kinder, die frühzeitig den Alltag der Familie organisierten. Beyhan Calik begleitete unter anderem ihre Eltern bei Behördengängen und bei Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern. „Das war wirklich so ein Switch in der Rollenverteilung, dass wir als Kinder Aufgaben der Eltern wahrgenommen haben“, erinnert sich Beyhan Calik. Generell wurde in ihrer Familie Wert daraufgelegt, füreinander Verantwortung zu übernehmen. „Für mich und meine älteren Brüder war klar, dass wir alle anpacken müssen. Wir haben gemeinsam meiner Mutter im Haushalt geholfen und Einkäufe erledigt.“
„Ich habe das von der Pike auf gelernt: Wie trete ich gegenüber Behörden und in der Gesellschaft auf? Ich war schon immer auf der Bühne.“
Bildung und Selbstbestimmung
Bildung war für Beyhan Calik ein wichtiger Schlüssel, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Im Anschluss an eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin studierte sie Jura in Erlangen und arbeitete danach zunächst als freie Rechtsanwältin, bevor sie 2007 mit zwei Kollegen ihre eigene Kanzlei in der Nähe von Nürnberg gründete. „Mir war immer wichtig, dass ich unabhängig und selbstständig bin.“ Ein weiteres Anliegen von ihr: den Dialog zwischen der deutschen und türkischen Kultur zu fördern. Von 2005 bis 2011 engagierte sie sich als aktives Mitglied im Deutsch-Türkischen Frauenclub Nordbayern e. V. Heute unterstützt sie – durch die damalige Vereinsarbeit inspiriert – selbst junge Frauen in der Türkei mit Spenden, damit diese studieren können. „Bildung ist entscheidend, um sich zu emanzipieren. Türkische Frauen darin zu stärken, ihren Weg zu gehen, ist nach wie vor ein Herzensthema von mir.“
3 Fragen zur Rolle der Frau
Es muss noch selbstverständlicher werden, dass Frauen alle Berufe ausüben können, auch die angeblich typisch männlichen. Und wir sollten generell die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen überwinden. Es wird besser, aber wir müssen weiter daran arbeiten.
Frauen sind sehr stark, weil sie Organisationstalente sind und eine enorme emotionale Intelligenz besitzen. Diese bringen sie unter anderem ein, wenn sie ihre Kinder auf ihrem Lebensweg begleiten. Für mich persönlich bedeutet Stärke, nach Hilfe zu fragen, wenn ich sie brauche. Und mutig zu sein.
Ich wünsche mir, dass die Rollenklischees, die sich über Jahrzehnte festgesetzt haben und von Familie zu Familie weitergegeben werden, durchbrochen und neu gedacht werden. Ich möchte genauso behandelt werden wie Männer auch. Das können wir aber nur, indem jede und jeder Einzelne damit selbst anfängt und das insbesondere den eigenen Töchtern vorlebt.
Zwischen den Kulturen
Persönlich empfindet es Beyhan Calik als Privileg, zwei Kulturen zu kennen und sich das Beste herauspicken zu können. Emotionalität und eine blumige Sprache verbindet sie mit der Türkei. Ihre deutsche Seite beschreibt sie als sehr sachlich, sehr objektiv, sehr strukturiert. „Ich bin nie in den Konflikt gekommen, mich zwischen den Kulturen entscheiden zu müssen“, sagt sie. Fähigkeiten, die sie aus ihrer biografischen Situation heraus entwickelte wie das Begleiten, das Unterstützen und das Beraten, spielten bei all ihren beruflichen Entscheidungen eine wichtige Rolle.
Vermitteln und kein Blatt vor den Mund nehmen
Als Rechtsanwältin vertrat Beyhan Calik vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. „Menschen zur Seite zu stehen, die das System und die Regelungen nicht kennen, war mein Ziel“, erzählt sie. Von Vorbehalten ihr und ihren Klientinnen und Klienten gegenüber hat sie sich nicht beeindrucken lassen. Als ein Richter einem türkischen Mandanten respektlos begegnete und laut wurde, unterbrach sie die Verhandlung. Sie teilte dem Richter mit, dass sie ihren Mandanten darüber informieren werde, dass er den Richter wegen Befangenheit ablehnen könne. Dieser verstand den Alarmschuss und ging auf eine normale Tonhöhe runter. Selbstbewusst aufzutreten, fällt ihr vor allem im beruflichen Kontext leicht. Ihrer Erfahrung nach sind allerdings Frauen, die deutliche Ansagen machen, häufig nicht so gut angesehen. „Bei einer Frau, die auf den Tisch haut, wird das schnell als hysterisch abgetan, bei einem Mann nicht. Da braucht es einen Wechsel“, findet sie.
Familienpakt
Die Bayerische Staatsregierung und die bayerische Wirtschaft haben 2014 den Familienpakt Bayern geschlossen: Das bayernweite Netzwerk unterstützt bayerische Unternehmen und Betriebe mit einer Vielzahl an verschiedenen Angeboten, zum Beispiel Online-Seminaren, Best-Practice-Beispielen oder Interformationsmaterialien, dabei, familienfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen und das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichtbarer zu machen. Weitere Infos zum Familienpakt finden Sie hier.
Offen kommunizieren
Über eigene Erwartungen zu sprechen, bedeutet Beyhan Calik viel. In ihrem heutigen Beruf als Personalleiterin im Klinikum Nürnberg weiß sie, wie wichtig der Dialog auf Augenhöhe ist. Aber auch privat legt sie Wert auf Offenheit und Austausch. Bevor sie sich für die neue Führungsposition entschied, setzte sie sich beispielsweise mit ihrem Mann und ihrer damals zehnjährigen Tochter an einen Tisch. Sie schilderte, wie sich die neue Stelle auf ihr Familienleben auswirken würde und dass sie ihre Tochter dann nicht mehr stets zu den nachmittäglichen Kursen begleiten oder Arzttermine mit ihr wahrnehmen könne. Ihr war wichtig, dass allen klar ist, was der Wechsel bedeutet. Heute hält ihr Mann ihr den Rücken frei, und sie selbst bringt sich so in der Familie ein, wie es die Arbeit zulässt: „Ich kann ‚geplant flexibel‘ sein. Das ist glücklicherweise etwas, was ich bei meinem Arbeitgeber wunderbar leben kann.“ Sie kann sich mit ihrem Arbeitgeber bei Bedarf auch kurzfristig absprechen, wenn sie Termine nicht wahrnehmen kann, weil sie sich um ihre Tochter kümmert. Flexibel darauf reagieren zu können, falls unvorhersehbare familiäre Angelegenheiten eintreten, ist ihr ein spezielles Anliegen. Mitarbeitenden mit kleinen Kindern – sowohl Frauen als auch Männern –, für die sie die Personalverantwortung trägt, sagt sie: „Wenn der Kindergarten oder die Schule wegen einer dringenden Sache anruft, dann lasst alles liegen!“
„Wir müssen weg von dem Bild der Powerfrau, die alles bewältigen kann. Es ist wichtig, offen mit familiären Themen umzugehen – vor allem am Arbeitsplatz.“